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DIE SCHWARZ-WEIßE GIRAFFE

In einem Dorf in einem nicht weiter bestimmbaren Land wurde beschlossen, die schwarz-weiße Giraffe zu einem wichtigen Orakel heranzuziehen. Es war eine unlösbare Situation entstanden, für die die Dorfbewohner, die dieses Problem in voller Härte betraf, ihre Hilfe brauchten. Zu diesem Zweck musste die Giraffe in den nahegelegenen Reissee hineingeführt werden, damit sie dort am Grund die erhoffte Lösung fände. (Immer wenn Probleme auftraten, wurde die schwarz-weiße Giraffe in dieser Weise „befragt“.) Lange war die Giraffe im Reis. Sie tauchte mit dem Hals unter, selbst ihr Rücken war nicht zu sehen. Sie durchpflügte den See von links nach rechts und wieder zurück, nur ab und zu sah man ihren herausgestreckten Hals, wenn sie Luft schöpfte, um danach wieder abzutauchen. Die Dorfbewohner versammelten sich am Ufer und blickten auf die weiße Oberfläche des Sees, der aussah wie grobkörniger Reis – ähnlich einem Teller Milchreis – mit einigen Zimtflecken darauf. Schließlich reckte die Giraffe – und man sah ihre schwarzen Streifen auf weißem Fell weithin in der Sonne leuchten – ihren Hals hoch hinaus, und jeder konnte den Zettel sehen, den sie im Maul trug. Ein Seufzen der Erleichterung ging durch die Menge. Man bereitete ihr eine Gasse mit Menschenspalier, durch die sie alsbald erst aus dem Reis herausschritt und dann in Richtung – ja, wohin war nicht zu sehen – ging. Sie legte das Papier ab und verschwand.

Die Situation, die ihren Orakelgang notwendig gemacht hatte, erforderte nun ein Treffen der Beteiligten, damit die Lösung vorgelesen werden konnte. Zwei ältere Frauen saßen Seite an Seite auf dem Boden, ihnen gegenüber ein junges Mädchen, das sich entscheiden sollte, zu welcher der Frauen es gehen wollte. Das junge Mädchen weinte, dann wieder wurde es ärgerlich, weigerte sich, sich zu entscheiden, sträubte sich. Jede der alten Frauen trug nun die Gründe dafür vor, warum das Kind zu ihr gehörte und was alles sie für das Kind tun wolle und könne.  Der Zettel – zusammengefaltet, etwas gelblich – lag in ihrer Mitte. Das Gezerre und Gezanke hielt noch eine Weile an, steigerte sich zwischenzeitlich, als die beiden alten Frauen aufeinander losgingen. Dass es sich um ein nicht ganz persönliches Problem zwischen diesen drei Personen handelte, wurde bald klar. Es ging um eine grundsätzliche Frage: Wer gehörte hier (zu) wem und aus welchen Gründen – und konnte das von außerhalb oder gar durch ein Orakel gelöst werden? Die Antwort würde für alle im Dorf in Zukunft verbindlich sein.

Eine von irgendwoher eingreifende Hand beendete den Disput, und der Zettel wurde entfaltet und vorgelesen. Es hieß darin, dass das Mädchen weder der einen noch der anderen Frau zugesprochen werden könne, da kein Mensch einen anderen besitzen dürfe. Beide alten Frauen hätten so sehr auf ihren Anspruch bestanden, so dass nun entschieden würde, dass das Mädchen sich selber gehöre und für sich selbst sprechen dürfe.

Ich wachte von dem Traum auf, wollte auf die Uhr schauen, tat es aber nicht. „Ich werde mich schon daran erinnern“, sagte ich mir, und schlief wieder ein, um mir dann doch tatsächlich bis zum Morgen bei jeder gegebenen Möglichkeit die Giraffe in Erinnerung zu rufen. Unten der ungefähre Zeitraum des Traums. Wer möchte, mag einmal darauf schauen, vielleicht entdeckt er etwas Bekanntes.

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