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DIE MUSIK DER DEUTSCHEN SPRACHE

Letzte Woche habe ich ausgemistet. In den DaF-Ordnern auf meinem Laptop lagen noch Entwürfe für ein Deutschlehrbuch, „Deutsch von Anfang an“ hatte ich es vorab betitelt, aber darauf verzichtet, bereits einen Einband zu basteln (ich hole das umgehend nach). Zwei wichtige Bestandteile meiner Einführungen in grammatische Kapitel waren immer Bilder; meistens habe ich Karten angefertigt, die meine Schüler in die Hand nehmen konnten (haptisches Lernen), während sie dabei die Worte aussprachen oder sogar Fragen und Antworten „legten“. Zu den Karten, die mal Tätigkeiten zeigten (Verben) und mit denen ich Konjugation übte, vielleicht später auch verschiedene Tempusformen des Deutschen, oder Gegenstände (Substantive) zur Übung von Deklination. Was für ein Spaß war das, wenn wir uns das Wunder der deutschen Artikel anschauten. Schon der Akkusativ löste OH-Rufe aus, und der Dativ brachte einige Schüler ins Schwärmen. Sie sehen schon, ich bin absolut nicht auf der Linie von Mark Twain. – Der Dativ ist in der Progression spät dran. Der wichtigste Kasus ist der Akkusativ – und dann kommt ja noch die Brisanz des bestimmten und unbestimmten Artikels hinzu.

Deutsch von Anfang an. Eine erste Übung ist zum Beispiel das Erfragen und Nennen von Name, Wohnort und Herkunftsland. Das wird zunächst alles mündlich gemacht. Ich frage reihum in die Gruppe jeden Einzelnen: Wie heißen Sie? – Und gebe vor: Ich heiße…. Die Gruppe hört meine Frage dabei mindestens 50x hintereinander. Die Antwort enthält schon erste Hürden: der Ich-Laut ist nicht ohne, und der Diphtong /ei/ ist auch nicht in allen Herkunftssprachen vorhanden. Nächste Hürde: Es gibt die Sie-Anrede und die Du-Anrede. Ich habe es immer vorgezogen, meine Schüler zu siezen. Das gehört zu den feinen Nuancen, die unsere Sprache bereithält. Höflichkeit und Distanz gegenüber dem nahen und warmen Du.

Mit der Frage nach dem Wohnort ist es einfacher. Alle wissen, wie die Stadt/der Ort heißt, in dem sie untergekommen sind. Die Frage nach dem Woher ist nicht zu unterschätzen, hat sie doch etwas von: Es interessiert tatsächlich jemanden, wer ich bin und wo meine Wurzeln sind. Die Motivation steigt, wenn sie merken, dass der Lehrer sich darüber vorab Gedanken gemacht und vielleicht Karten angefertigt hat, auf denen die Heimatländer im Umriss zu sehen sind. (Kann man auch verwenden, um Land und die Bezeichnung der dort gesprochenen Sprache zu üben.)

Wenn das alles einmal „durch“ ist, verteile ich die Arbeitsblätter: Jetzt erfolgt die Visualisierung. Und die bringt für manche große Überraschungen mit sich. Laut und Graphem scheinen ihnen so gar nicht übereinzustimmen! Und wie wichtig die Aussprache des Verbendes ist! Von diesem Arbeitsblatt zweigt noch ein anderes ab – nämlich eines zu den Personalpronomen: ich-du, wir-ihr und die Anredeform Sie. Die Phase der Übung darf natürlich nicht 90 Minuten ausfüllen. Das wäre öde. 20 Minuten höchstens, dann muss ein Wechsel der Inhalte her. Stattdessen muss diese Übung aber in Variationen an jedem Kurstag erweitert und verfeinert werden. Zur Musik. Natürlich ist in den einfachen Fragen eine Musik enthalten. Bei W-Fragen liegt die Betonung auf der ersten Silbe des Verbs. Das Fragewort selbst ist unbetont. Die Stimme hält die Betonung der ersten Verbsilbe, nimmt sich am Fragenende zurück, geht aber nicht nach unten.

Anders bei den Ja-/Nein-Fragen. Die Stimme fängt „unten“ an und geht am Ende der Frage deutlich nach oben. Das kann man mit Gesten begleiten lassen – die Schüler lachen sich meistens eins, wenn sie mit der Hand erst flach durch die Luft fahren, und dann einen Schlenker nach oben machen sollen. Aber das prägt sich ein. Satzfragen nennt man sie auch, und das Verb (das konjugierte) steht dann immer am Anfang. Das wird alles natürlich überdeutlich ausgesprochen und geübt – es geht auch um Gehörschulung: Nur, was unterschieden werden kann, prägt sich ein. Vernuschele ich die Verbenden, lernen die Schüler weder die Konjugation noch hören sie sie.

Jetzt sind die Schüler dran. Sie bekommen ihr „Skript“, ihr Drehbuch und fragen sich in Partnerarbeit in theatralischer Weise ab. Ich sage ihnen, sie sollen sich vorstellen, sie seien Schauspieler und hätten eine kleine Rolle in einem Film. Soviel Zeit muss sein. Wenn man die nicht aufbringt und das Ganze seelenlos herunterrappelt, wird das nichts. Apropos „seelenlos“. Die Fragen und Antworten sind natürlich in gewisser Weise maschinenhaft. So spricht kein Mensch, auch wenn die grundsätzliche Prosodie schon mal stimmt. Es fehlt das Salz in der Suppe. Auf einer etwas späteren Stufe, vielleicht – sagen wir – zehn Unterrichtsstunden weiter, probiere ich etwas Neues. Dann streue ich nämlich „Salz“ aus. So nenne ich die kleinen Füllwörter (die so kurz und klein nicht sind): sag mal, sagen Sie mal, eigentlich, doch, vielleicht, genau,  — sie ändern die Satzmelodie und machen alles ein wenig weicher. Sie sind Türöffner und machen die Kommunikation verbindlicher. Freilich sind einige Wörter schwer auszusprechen – aber hallo – das gehört dazu.

Die Übungen habe ich natürlich vorher immer an den jeweiligen Kurs angepasst, so dass jeder sein Land und sich selbst in den Übungen wiederfindet. Eine öffnende Frage wie Sagen Sie mal, woher kommen Sie eigentlich? spreche ich mehrmals vor und lasse die Schüler sie im sog. abhebenden Lesen wiederholen. Sie lesen erst, rufen sich die „Musik“ in den Sinn, decken das Papier ab und sprechen dann. Das trauen sich nicht alle. Sie wollen die Sicherheit der Grapheme und rattern die Frage dann wie ein Computer herunter. Das freie Sprechen mag nicht perfekt sein – aber wenn die Musik stimmt, erkennt der Hörer: ES IST DEUTSCH!  Schon mal bemerkt? Es gibt perfekte Deutschbeherrscher, Grammatik und alles sitzt, aber die Stimm-Modulation und die Betonung singt eine andere Melodie, und schon ist das Verständnis dahin.

Irgendwann sind die ersten Formen also da – jetzt geht es an die Erweiterung des Wortschatzes. Den einen Wortschatz sichern, Formen mit ihm einführen, und dann die Formen mit neuen Wörtern festigen. Viele Lehrer begehen den Irrtum, neuen Wortschatz zeitgleich mit neuen Formen anzubieten, der Transfer unterbleibt. … Jetzt kommen meine Verbkarten zum Einsatz. Meine Schüler wussten ziemlich bald sofort, was es zu bedeuten hatte, wenn ich meine Briefumschläge mitbrachte und an Zweierteams austeilte. Gemeinsames Sammeln der Wörter dieser Tätigkeiten, Anschrieb an die Tafel – Absichern der Konjunktion. Und los gings.

Dass sich hier z.B. bereits das Wort aber einschleicht, lasse ich einfach unerklärt. Die Intonation macht das von alleine klar. Und wieder ist das Sprachbeispiel durch den Lehrer sehr wichtig. Hören Sie das? Sag mal — Pause — tanzt du EIGENTlich gern Tango? Ich könnte aber auch so betonen: Sag mal — Pause — tanzt du eigentlich gern TANGO? Oder noch anders: Sag mal — Pause — tanzt DU eigentlich gern Tango? – Also, da sind wir ganz mittendrin in den unterschiedlichen Gewichtungen, doch noch führt das zu weit.

Nein oder ach nein? – Der Unterschied ist wieder fundamental. Nein – kurz und knapp, oder mache ich ein Neiiiin daraus? Jeder versteht sofort und ohne Erklärung, was das ausmacht, was da an Emotionen mitgeliefert wird. Diesen Übungszettel darf ich nicht einfach so auf den Tisch legen. Er ist das Ergebnis am Ende der Übungseinheit – zum Nachlesen, zum Nachspüren. Wir arbeiten auch mehr als einmal daran. Die Schüler lieben übrigens das deutsche Wort doch. Es ist so herrlich antagonistisch. Man muss die Frage genau hören: eine Negativfrage geht voran. Kommst du nicht aus Frankfurt? (Der Betreffende kommt aber aus Frankfurt!) Die Antwort ist Doch.

Auch Phonetik hat seinen Platz im Unterricht. Sprechen Sie mal dies: Ach, ich doch nicht. Lach doch! Lach nicht. Ich auch nicht. Eine solche Übung habe ich oft zwischendurch gemacht, quasi zum Dehnen und Strecken, um dann wieder andere Formen zu üben. Lachen macht locker und der Kopf wird frei. Übrigens: durch ist ein sehr interessantes Wort. Im österreichischen Deutsch fällt das ch in die Gruppe der Ach-Laute, der weiter hinten im Rachen artikuliert wird, im Hochdeutschen ist es ein Ich-Laut.

Nun gut, lange Rede, kurzer Sinn – ich wollte eigentlich auf noch anderes hinaus, bzw. habe es ja bereits angedeutet: das emotionale Sprechen, wofür wir im Deutschen eine große Anzahl von Modulationswörtern (z.B. Interjektionen oder Partikel) im Reservoir haben. Sie steuern nichts zum Informationsgehalt der Botschaft bei, man kann sie wegstreichen und die Satzaussage bleibt erhalten, aber sie tauchen eben eine Aussage in ein anderes Licht. Erstaunen, Unglauben, absolute Ablehnung oder große Freude werden in kleinen und mittellangen Wörtern transportiert, die die Satzmelodie (mit Tonhöhe und Wortakzent) der Aussage verändern. So gesehen ist die deutsche gesprochene Sprache eine ausgewiesene Tonsprache mit einer großen Bandbreite an Möglichkeiten. Die Stimme steigt und fällt mehrfach in einer „Redeeinheit“, es geht rauf und runter, und der Satzakzent kann auf verschiedene Schwerpunkte im Satz gelegt werden. Etliche Grammatikformen und die Syntax (Wortfolge im Satz) sind nicht so schwer, wie die Leute immer meinen: die Strukturen und Formen sind kognitiv schnell zu durchdringen (die richtige Anordnung macht es), morphologische (ausgesprochene Wortbildungs-) Einheiten brauchen Wiederholung und Übung in der Anwendung. Je öfter, desto besser. 

Von Rhythmus habe ich noch gar nicht ausdrücklich gesprochen – und auch der sollte in einem Unterricht unbedingt einfließen. Fließen ist das Wort des Momentes: Die Rhythmisierung eines Textes entsteht durch die Sprechmelodie, die Akzente in Wort und Satz, durch den starken Spannungsunterschied zwischen akzentuierten und akzentlosen Silben sowie durch die Untergliederung in kleinere rhythmische Einheiten. Jedes Wort allein ist bereits eine rhythmische Einheit und kann ja auch einen vollständigen Ausspruch bedeuten. Das sollte ein Lehrer von Anfang an als Sprechmodell vorsprechen (das ist der Grund, warum ich nichts davon halte, wenn Lehrer, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, auf einem niederen Sprachniveau bereits anderen Deutschunterricht geben). Ach, was haben die Schüler gelacht, wenn ich Wörter und Sätze auf den Tisch geklopft habe… oder sie habe aufstehen und einen Satz „gehen lassen“ – Rhythmus ist alles. Die deutsche Sprache wird zur Gruppe der akzentzählenden Sprachen (wie z.B. auch das Englische) gezählt. Romanische und viele asiatische Sprachen sind silbenzählend – und ihre Sprecher haben große Probleme mit der deutschen Musik.

Vorwärts zum emotionalen Sprechen. Die folgenden Lautmalereien rutschen uns als erste Reaktionen auf Gehörtes heraus: ach, ah, aha, au(a)/autsch, bäh, brrr, hm, hihi, hoppla, hu(ch), hui, hurra, igitt, ih, juhu, na, naja, nanu, oh, oho, oi, oje, pah, pfui, phh, puh, tja, uff, uh, ui. – Es ist natürlich bereits ein Einstieg in die Verbindung von Laut und Gesichtsausdruck, was man im Unterricht wieder herrlich veranschaulichen kann. Welcher Laut passt zu welchem Gesicht? – Immer ist dabei natürlich den Schülern der Vergleich mit ihren Sprachen erlaubt, mehr noch: ausdrücklich erwünscht. Eine nächste Gruppe, schon oben angeklungen sind die sog. Partikel: aber, auch, bloß, denn doch, eben, eigentlich, etwa, halt, ja, mal, nur, schon, vielleicht, wohl.

Diese sog. Abtönungspartikel  – unflektierbare Wörtchen – dienen dazu, die Stellung des Sprechers zum Gesagten zu kennzeichnen. Dabei verlässt der Sprecher die Ebene des Gesagten und zeigt in einer zweiten Ebene sein Urteil über dieses Urteil. Du bist aber groß geworden! Du hast wohl nicht alle Tassen im Schrank! Da bist du ja endlich! Warum guckst du so komisch? Bist du etwa neidisch? Sag mal, was hast du denn da gemacht?!

Also, ich habe das beim Ausmisten und Löschen gefunden. Ich habe diese Dateien doch nicht gelöscht und hebe sie noch auf. So ein wenig Sentimentalität am Rande des Wahnsinns von hier allem. Es wäre eben doch schade, wenn es verloren ginge… Aber so was von!

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