NICHT ALLE SEELEN GEHEN FREUDIG
Ob sie sich in der nächsten Woche treffen wollten, fragte die Freundin. Sie reagierte nicht. Die Freundin stieß sie an. Wo sie mit den Gedanken sei.
Heute Morgen, so gegen fünf oder halb fünf, sagte sie, sei jemand gestorben. Gerade in diesem Moment, in dem sie hier bei ihr sitze, falle ihr das wieder ein. Die Freundin schüttelte den Kopf. Was sie sich da wieder zusammen denke.
Dann: Wie sie bloß darauf komme, ob es einen Bekannten getroffen, ob jemand angerufen habe. Nein, alles das nicht, nichts von dem. Beim Zubettgehen jedoch eine Radiomeldung. Ein junges Mädchen liege hirntot in einer nicht weit entfernten Klinik.
Und dann sei sie in der Nacht einem – weiblichen – Wesen am Hauptbahnhof begegnet. Ein Mädchen – jung, auf dem Weg zum Vater, und zur Stiefmutter (oder Großmutter?) – sei es gewesen, es habe kein Gepäck dabei gehabt. Die Zarte habe gesagt, sie wolle nur kurz dort bleiben… Sie standen eine Weile nebeneinander auf der Anhöhe und blickten auf den Bahnhof hinunter – die Bahnhofshalle im Nebel unter ihnen. Sie habe ihr angeboten, sie zum Zug zu bringen, und die Zarte sei einverstanden gewesen. Also verließen sie die Anhöhe und betraten den Bahnsteig.
Sehr voll sei es gewesen. Es fühle sich allein und verlassen, habe das Mädchen gesagt, und deshalb habe sie seine Hand gehalten. Dann war der Moment vorbei. Ob sie sich verabschiedet hatten, vermochte sie nicht mehr zu sagen.
Der Nebel sei in ihren Kopf gedrungen, habe sie alles nur undeutlich sehen lassen. Sie habe sich anlehnen müssen, an einen Pfeiler, griechisch oder ionisch oder dorisch, sie könne sich auch daran nicht erinnern…. Und in dem Moment, in dem die Sonne durch die oberste Kuppel ihre Strahlen nach unten schickte, und sich auf dem Boden dampfende Schwaden bildeten, sei das Mädchen wieder aufgetaucht. Seine Haare aufgelöst, lang über die Schultern, den Rücken fallend, raphaelitisch, still, die Kleider zerrissen und entweiht. Es sei auf der Bahnhofstoilette verschwunden. Sei an ihr vorbeigegangen, und habe sie nicht bemerkt, und deshalb auch an ihr vorbeigesehen. Und sie habe sich an den Pfeiler gedrückt, als wäre es ein böses Omen, von ihrem blicklosen Blick gestreift zu werden – aus dieser Aufgelöstheit.
Unmittelbar darauf habe sie sich dann mit anderen Mädchen und Frauen zusammengesehen, sie seien geradezu von diesem Ort, diesem kahl-weißfliesigen, eingesogen worden, sie als Letzte. Hochdeckig der Raum, unterteilt in Kabinen, und aus der letzten Ecke sei lautes Weinen gedrungen, Weinen und dann ein Schrei, aus tiefster Seele, aus tiefstem Schmerz. Ein kaum noch menschlicher Schrei.
Sie sei aufgewacht, sagte sie, und habe sich vergewissert. Ich bin aufgewacht und habe mich vergewissert, wiederholte sie, dass es keiner von uns war.
Lass uns nächsten Mittwoch treffen, sagte die Freundin. Sie nickte zerstreut. Im Radio lief eine Meldung aus einem nahegelegenen Krankenhaus, in dem man die Geräte eines jungen Mädchens abgestellt hatte.