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VON DER ZEITVERSCHWENDUNG

Von der Lebenszeitverschwendung

Ich warne schon einmal vorweg: Ich fange gemäßigt an, und galoppiere am Ende in Rösselsprüngen davon … – „Du kannst alles werden, was du willst“ – eine Zeile, die in vielen Songs auftaucht. Ein ehemaliger amerikanischer Präsident kürzte die Sentenz zu „Yes, we can“. Ja, klar, wir können wollen. Lange Zeit können wir viel wollen und ausprobieren – nämlich in der Jugendzeit. Da haben wir alle Zeit der Welt, uns zu finden. Und auch Zeit genug, Dinge zu wollen, die nicht in unseren Möglichkeiten liegen, die wir aber erzwingen wollen.

Die Zeit der Jugend weicht unweigerlich der Reifezeit. Die „Zeit“ wird da schon wertvoller. Es stellt sich die „Langeweile“ für manche beinahe jäh und schlagartig auf „Torschlusspanik“ um. Die Zeit läuft davon. Gut, wenn man inzwischen herausgefunden hat, wer man ist, und was zu wollen in der Reichweite der eigenen Möglichkeiten liegt. Das ist eine ernüchternde Erfahrung. Der Wille und das Mögliche bzw. die wirkliche Gabe klaffen auseinander.

Und nun komme ich mit der Astrologie daher und sage: Ich weiß, warum du als über 50er in die Krise kommst. – Die, die wirklich an ihrem Platz stehen, fangen ja kein Grübeln über ihr Leben an. Sie sind mit dem, was sie tun und dem, was sie sind, im sog. Reinen (was nicht heißt, dass dieses Gleichgewicht nicht immer mal wieder gestört und anschließend neu hergestellt werden muss). Länger anhaltende Krisen aber, oder gravierende Krankheiten, die sich in immer neuen Formen und Symptomen festgesetzt haben, sind der Anzeiger für ein chronisches Aus-dem-Gleichgewicht-Sein. Ein „Ich will gesund werden“-Mantra mit Hauruck-Verfahren oder in einer ausgeklügelten Therapie hilft da wenig, wenn man die Grenzen seiner Möglichkeiten – und zwar der grundsätzlichen, immer noch nicht akzeptiert. Auf der verzweifelten Suche nach dem Sinn im Leben fällt Menschen in der Krise nicht mehr ein, dass sie selbst der Sinn sind, den sie mit ihrem Leben bezeugen.

Das Leben ist kein Selbstbedienungsladen, in dem man sich seinen Sinn abholt – und dann auch noch einen möglichst „guten“ und „angenehmen“. Niemand greift gerne nach einem beschädigten Päckchen, dessen Haltbarkeit demnächst abläuft – aber so ist es eben nicht.

Eine ehemalige Bekannte von mir hatte einen zu großen und außerdem verbogenen Mittelzeh. Sie hatte in fragwürdigen Lehrbüchern nachgelesen, dass das „charakterlich“ wenig Gutverheißendes bedeutete und versuchte nun, den (ihr von Natur aus mitgegebenen großen) Mittelzeh mit Spangen und allerhand technischen Mitteln zu verkleinern. Ungeeignetes Schuhwerk hatte zusätzlich dem Fuß schon lange zugesetzt – und das Deformierte ließ sich nun nicht einfach so wieder „gerade biegen“, manches an Schaden ist eben ungerechterweise tatsächlich irreversibel.

Den Zeh nun mechanisch zurechtbiegen zu wollen, um damit in eine neue, positivere Charakterkategorie zu gelangen – das kann man versuchen – aber es ist Selbstbetrug, eine Selbsttäuschung, die einen Aufschub bringt, wenn es darum geht, der Wahrheit nicht ins Gesicht zu blicken. Ich bin nicht diejenige, die darüber richtet. Ich verstehe das. Heil, rein, unversehrt zu sein – dann vielleicht noch schön und erfolgreich – ist das Ideal vieler Menschen. Vielleicht aller; wie das Wort IDEAL sagt – ein im Realen nicht haltbarer Zustand. Und damit müssen wir leben.

Ich bin da manchmal ziemlich gefühllos und sage bisweilen, wenn da einer im Krisenmodus ist, er möge schauen, was ihm im Leben großes Unwohlsein bereitet. Da liegt nämlich ein Hinweis. Nun ist es nicht so, dass er dieses Objekt seines Unwohlseins umarmen und zu Tode lieben soll – mitnichten. Tatsächlich kommt aber oft heraus, dass die im Sinnsuche-Modus-Laufenden genau dieses Unwohlsein jeden Tag aufleben lassen. Das tun sie natürlich nicht bewusst und auch nicht freiwillig – sondern sie sind in einem Zwang, der sie hindert, eine Vorstellung von sich aufzugeben, während sie gleichzeitig ahnen, dass das, was sie da tun und darstellen, nicht „ihrs“ ist.

Ich will aber… sagt das kleine Kind, und will „es“ erzwingen.

Und so vergeht Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat – die Lebenszeit wird weniger.

Dem jungen Drang in die Welt sind alle Möglichkeiten offen – und es werden jede Menge „Fehler“ gemacht. Irrwege werden beschritten und dann wieder verlassen. Wohl dem, der sich dies erlaubt und sich eingesteht. Für die später unvermeidbar anzustellende Lebensbilanz verheerend ist, wenn jemand meint, sich nicht erlauben zu können, einen eingeschlagenen Irrweg zu verlassen.

Dem jungen Menschen darf ich nicht reinreden, dem älter Gewordenen kann ich zuhören, und auf Nachfrage und kraft meiner Kunst und meiner Technik des Horoskoperstellens das Bild seiner Persönlichkeit vorlegen. Ob es es annimmt – steht nicht in meiner Entscheidung, es ist die Seine, ob er mir glaubt, dass ich ihm da schon keinen Bären aufbinde.

Das Leben ist wie eine Blüte, die sich entfaltet. Am Morgen ist die Knospe noch geschlossen, mit der Dauer des Tages öffnet sie sich und riskiert im Öffnen, dass sie verwundet wird – und erfüllt mit dem Öffnen nachgerade ihren Lebenssinn: Sie braucht, um als Art weiter bestehen zu können, die Begegnung mit dem Außen. Früchte gibt es nur, wenn man das Risiko des Lebens eingeht.

Eine Apfelblüte „weiß“ nicht, dass sie Apfelblüte ist. Sie ist. Ebenso die Erdbeerblüte. Keiner von beiden wird in Versuchung kommen, etwas anderes sein zu wollen als das, was sie sind.

Viele Menschen werden diesen Vergleich nicht mögen. Ich bringe ihn trotzdem. Denn die Apfelblüten-Menschen meinen, sie könnten, wenn sie nur fest genug daran arbeiten, eine Birne hervorbringen… oder etwas in der Art. Ich treibe es noch weiter, ist ein altes und oft gebrachtes Beispiel von Wolfgang Döbereiner: Ein Fisch, der auch einmal auf der Strandpromenade flanieren möchte, braucht dazu etliche Hilfs- und Behelfsmittel. Es ist ihm einfach als Wassertier nicht gegeben, sich in anderen Umgebungen zu „verwirklichen“. Wie heißt der flotte Spruch? – Es gibt kein wahres Leben im falschen.

So, nun steht da jemand in seinem 65. Lebensjahr vor mir, hat sein Arbeitsleben hinter sich, hat den Frondienst vollbracht, sich dabei etliche Hilfsmittel zugelegt und ein Sicherungssystem geschaffen, das sein Leben gewährleistet. Jetzt, sagt er – der Jemand -, will ich leben. Moment! … Leben und leben. Ein Wort und doch ist es jeweils mit unterschiedlicher Bedeutung belegt. Jetzt will die Frau, die ihr „Leben“ lang funktionierte, „durchstarten“ – ja, so habe ich Menschen reden hören.

Die einen verstehen nun unter „Leben“, ihr Dasein auf Kreuzfahrten zu fristen: Reisen und Länder, Kulturen, und Luxus konsumieren. Andere können nicht zu Hause bleiben, weil dieser Ort sie nicht ablenken kann, bzw. sie auf das stößt, was sie bisher vernachlässigt haben. Das kann sehr unangenehm werden. Sie suchen sich wiederum eine Beschäftigung, in der sie ihre Brauchbar- und Unersetzlichkeit unter Beweis stellen.

Dass ihre Zeit knapper wird, ahnen sie wohl. Und auch die körperlichen Kräfte sind nicht über alle gerecht verteilt. Führe ich dies fort, käme ich vom Hundersten ins Tausende – überlasse das dem Weiterdenken der Leser.

Erkenne, wer du bist.

Ein Quell sehr vieler der heutigen Missverständnisse zwischen den Jungen und den Alten – und das war nicht immer so extrem, wie ich es für unsere Epoche wahrnehme – ist der hohe Grad der Selbstverleugnung und -täuschung. Der Beharrungs- und Bleibewillen der Älteren mit ihren Vorstellungen von dem Leben, das sie meinten leben zu wollen, lässt den Jungen von heute kaum mehr Raum.

Wie sollen sie vor Älteren Respekt haben, wenn sie doch sehen, wie die ihre Lebenszeit verschwendet haben und nun nach mehr Zeit flehen, um doch noch den Sinn zu leben, den sie zuvor freiwillig abgaben?

Die Welt der Alten ist nicht die der Zukunft. Und es wird jetzt immer deutlicher: eine ganze Generation – ich spreche nur für einen bescheidenen mitteleuropäischen Teil – hat versäumt, die nachfolgende Generation wohlwollend und lebensorientiert auszubilden. Eigentlich leben die meisten lebensfeindlich und meinen, diese Haltung weitergeben zu sollen. Heruntergezogene Mundwinkel, in moralischer Verpflichtung befangen, ohne Lebensfreude…

In der ganzen Orientierungslosigkeit wird nun von Jungen wie von Alten versucht, mit Eingriffen in die Sprache, mit der unterschiedslosen Vermengung von allem eine wie auch immer funktionierende, fragwürdig ideologisch-moralisierende Gleichheit herzustellen. 

Welche Zeit- und Energieverschwendung.

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