Wer einen Text schreiben will, kommt nicht umhin, ihn zu planen. – Das vorausgeschickt.
Nun sind Muttersprachler jeder Sprache gerne der Meinung, sie beherrschten ihre Sprache – intuitiv und vor allem richtig. Ach, wie oft habe ich in meinen Kursen die deutschsprachigen Ehepartner meiner Schüler intervenieren hören: Diese Deutschübung ist falsch, so sagt man das auf Deutsch nicht. Gesprochensprachlich, dialektal und regional gefärbte Sprechgewohnheiten, Einflüsse der Jugendsprache und – ja – auch grammatische Irrtümer gehören zum Kommunikationsalltag. Niemand spricht wie gedruckt, und wenn, dann klingt es irgendwie elitär – das ist das Vorurteil, das sich standhaft hält.
Vor zwei Jahren machte ich einen letzten Anlauf und unterrichtete online Teilnehmer an Weiterbildungskursen in „Grundfertigkeiten der deutschen Sprache“. Das Dauerthema: das – mit einem s, mit zweien oder mit einem ß? Nächstes Thema: Wann steht vor diesem das ein Komma, und wann nicht und warum oder warum nicht? Apropos ß – in Deutschland verwendet man es noch, in der Schweizer Rechtschreibung ist es schon länger eliminiert.
Auf Wort- und Rechtschreibungsebene befinden wir uns auch, wenn es um die Verwendung von als und wie geht. Es gibt zwei einfache Regeln, wie man diese beiden auseinanderhalten kann. Ich will mich nicht weiter auf der Wortebene aufhalten. Auf einer nächsten Ebene geht es um Worthaufen (kein offizieller Begriff, ich habe ihn eben gerade mal entworfen). Worthaufen nenne ich z.B. zusammengefügte Einheiten aus Präpositionen und einem Substantiv einschließlich Artikel: Er sitzt auf einem Stuhl. Sie liegt auf dem Bett. Es steht im Regal. Auch hier bewegen wir uns zwischen Rechtschreibung und Grammatik. Keine richtige Schreibung ohne Verständnis der Sprachstruktur. Grammatik – Schreckgespenst und Nemesis vieler Schüler der Grundstufe der weiterführenden Schulen – bedeutet genau das: Sie bezeichnet die Lehre vom Bau der Sprache.
Jeder Lego-Bauer hat es mit den ersten Bauklötzen verstanden: mein Legohaus stürzt zusammen, wenn ich die Steinchen nicht so anordne, dass das Gebilde „hält“. Es entsteht vielleicht ein mehr oder weniger bizarr-interessantes Gebäude, nicht aber etwas, das sich als „Haus“ erkennen lässt. Wenn ich als Architekt antrete, ein Haus zu bauen, muss ich das nach allgemein festgelegten Regeln tun, ob mir das gefällt oder nicht, und kann mit wenigen Abweichungen meine Kreativität austoben. Die hat dort eine Grenze, wo sie die Verständigung verlässt und mein Haus die Bedingungen für ein Haus nicht mehr erfüllt.
Natürlich kann ich das Haus auf der rechten Seite immer noch als „Haus“ abstrahieren. Und doch fehlt ihm einiges, nämlich das Dach, die Türen und Fenster, die man schließen und öffnen kann. Ein Haus ist erst dann ein Haus, wenn es ein Innen von einem Außen abschließt.
So verhält es sich auch mit Sprache. Die Grammatik sorgt dafür, dass wir uns bei aller Kreativität und dem Ausdruck unserer Individualität immer noch verständigen und verständlich machen können, die Unterschiedlichkeit (Diversität) nicht ins Extrem läuft und wir uns missverstehen. Zurück zum Beispiel. Stellen wir dem gegenüber: Er setzt das Kind auf einen Stuhl. Sie legt die Tasche auf das Bett. Es stellt das Buch ins Regal. Herrlich, oder?! Mit einem eingewechselten Verb müssen wir nicht nur noch ein weiteres Satzelement hinzufügen, sondern auch gleich ein paar Buchstaben abändern. Namentlich die Endungen am Artikel, der sich aus dem ersten Beispiel mit dem Dativ in den Akkusativ im zweiten Beispiel ändert. Fragt man einen deutschen Muttersprachler, dann weiß er meistens nicht, was da vor sich geht. Die Orientierung, die ihm die Struktur der Sprache gibt, ist ihm automatisch geworden. Er muss sie nicht erklären.
Es gibt noch weitere Worthaufen, die man in der Fachsprache zu den Nomen-Verb-Verbindungen zählt. NV-Verbindungen sind feststehende Verbindungen, die für den Wortschatz, aber auch den Bau einer Sprache – in diesem Fall der deutschen – „typisch“ im Sinne von charakteristisch sind.
Für Leute, die Deutsch als Fremdsprache lernen, sind die Ausdrücke ein Quell großer Freude, weil sich auch hier die Bildhaftigkeit des Deutschen zeigt:
Wir bringen das Problem zur Sprache. Wir üben an der Politik der Bundesregierung Kritik. Wir stellen ein Thema zur Diskussion und bringen den Lehrer zur Verzweiflung, vielleicht auch zur Weißglut. Dabei leisten wir sowohl unseren Beitrag als auch einen Verzicht und haben am Ende die Sache abgeschlossen. Vielleicht haben wir aber auch einfach nur das Interesse an der Sache verloren, das Ganze hat uns zum Weinen gebracht und ansonsten überhaupt kein Aufsehen erregt.
Ich bewege mich immer noch waagerecht und in Hauptsätzen auf einer einfachen „Wortbau“-Ebene. Nehmen wir eine nächste Hürde und gehen auf die Satzebene. Ziel oder sagen wir mögliches Endprodukt des Spracherwerbs ist, dass wir uns all der Elemente bedienen, die unserem Gegenüber und Hörer das Verständnis sichert, das von uns Gemeinte widerspiegelt und dem Angesprochenen entspricht. Der Sprache gebührt ebenso Respekt wie dem Hörer, an den ich mich wende.
Das Kind läuft über die Straße. Der Mann hat eine Maske auf der Nase. Die Frau spricht in ihr Smartphone. (Man könnte Mann und Frau auch gegeneinander austauschen – aber sei’s drum!).
Alle diese Beispiele bestehen außer aus Wörtern maßgeblich aus Satzteilen. Wenn wir wollen, können wir sie benennen. Der erste Satzteil ist das „Subjekt“ (das Kind, der Mann, die Frau), dieses steht immer in einem, und nur in einem möglichen „Fall“ (Kasus), dem Nominativ (Wer-Fall). Ich kann fragen: Wer macht da was???
Das zweite Satzelement in unseren Beispielen (es heißt „Prädikat“) wird mit einem „Tu-Wort“ (läuft, hat, spricht) ausgefüllt. Dem Subjekt (so es am Kopf des Satzes steht!) folgt in der deutschen Sprache immer ein Tu-Wort, und es kann vor diesem Tu-Wort (hier wird etwas getätigt) wiederum jeweils nur ein Element stehen, dahinter ordnen sich dann die weiteren Elemente in einer nicht ganz freien Reihenfolge an. Dazu später.
Das dritte Element in unseren Beispielen ist eine Angabe, oder je nach Grammatik-Philosophie auch Ergänzung oder präpositionales Objekt genannt. Eine Angabe des Ortes (über die Straße, in ihr Smartphone), oder im zweiten Satz eine direkte „Objektangabe“ UND eine Angabe des Ortes: eine Maske (was?) auf der Nase (wo?). Die direkte Objektangabe – und das ist tückisch – steht sehr häufig im Wen-Was-Fall (Akkusativ). Dass sie auch mal im Dativ stehen kann (Wem-Fall) hängt mit dem Verb zusammen, das ich in meinem Satz verwende.
Ich kaufe einen SUV. Ich bringe der Frau einen Kaffee. Ich helfe der Frau. –> Akkusativ, Akkusativ und Dativ, Dativ.
Das ist die einfachste Reihung eines Satzes. Ich zeige noch einen kleinen Trick bzw. eine Besonderheit unserer Sprache: Nehmen wir den 2. Satz in der Reihe und ersetzen die Nomen (Hauptwörter) durch Pronomen (Fürwörter = Platzhalter für die Nomen). Im kompletten Satz steht die Objektangabe im Dativ (wem?) vor der Objektangabe im Akkusativ (was?). Das ist immer so.
Ich bringe der Frau den Kaffee. Er schenkt dem Mann eine CD. Wir erklären den Schülern die deutsche Sprache.
Ich bringe ihr den Kaffee. Er schenkt ihm eine CD. Wir erklären ihnen die deutsche Sprache.
Ich bringe ihn ihr. Er schenkt sie ihm. Wir erklären sie ihnen.
An dieser Stelle bemerke ich gegenüber meinen Schülern meistens, dass „wir“ das so gemacht haben, um die Deutschschüler zu ärgern! Aber Spaß beiseite. Solche Umstellungen brauchen eine längere Übungszeit. Anders als Wortschatz und auch die einfache Syntax lassen sich morphologische Elemente (Kasusendungen und die Verwendung der Fürwörter) nur durch sehr viel Übung bewältigen. Einmal erklären hilft da nicht weiter.
Eine weitere Besonderheit der deutschen Sprache – und ebenfalls ziemlich ausgeklügelt – ist die sogenannte Satzklammer.
Der nächste Lock-Down fängt im Dezember an. Die Krise hört hoffentlich bald auf.
Wir dürfen uns nicht mehr treffen. Wir wollen endlich in Urlaub fahren.
Die Krise hat im Frühling angefangen. Die Infektionszahlen sind im Laufe des Herbstes wieder gestiegen.
Bei der Satzklammer geht es um das zweiteilige Prädikat: die Funktion braucht hier zwei Verbteile, von denen eines „vorne“ (das konjugierte) im Satz beim Subjekt oder einer Zeitangabe steht und das zweite am Ende des Satzes. So ist die Struktur. Das Prinzip der Klammer ist übrigens nicht nur auf diese drei Elemente beschränkt (trennbare Verben, Modalverb + Vollverb, Perfektform mit Hilfsverb + Partizip II), sondern ist für unsere Sprache überhaupt wirksam. Sprecher der deutschen Sprache „arbeiten“ einen Satz nicht einfach linear ab, sondern greifen in seinem Aufbau gedanklich vor und kehren wieder zurück, aber der Hörer muss dabei schon mal bis zum Ende zuhören, um die letztendliche Gewissheit über die Aussage zu erhalten. Meine Schüler, im Straucheln bei dieser „Technik“ waren jeweils sehr verwundert, warum ich das Verb, auf das sie zuarbeiteten, bereits kannte. Auflösung des Rätsels: ich konnte es aus dem Aufbau ihrer verwendeten Satzelemente schlussfolgern. Um einen komplexen deutschen Satz nach allen Regeln der Kunst aussprechen zu können, muss ich also einen „Plan“ haben, ich muss wissen, was ich sagen will. Das klingt anspruchsvoll und ist es auch.
Im gesprochenen Deutsch ist das natürlich anders als im geschriebenen. Mündliches ist durch Unterbrechungen, Selbstreparaturen, Änderungen des Redeplanes u.a. gekennzeichnet. Man hört davon abgesehen dann solches:
Der Hausbau fängt an im Winter und hört auf im Frühling. Die Zahl der Intensivbetten ist erstaunlicherweise gesunken im Laufe des Frühlings.
Der Hausbau fängt an im Winter, wenn es mehr Bauarbeiter gibt. Die Zahl der Betten ist erstaunlicherweise gesunken im Laufe des Frühlings, der sehr warm war.
Geschrieben müsste der zweite Teil des Prädikats an das Ende des Satze wandern:
Der Hausbau fängt im Winter, wenn es mehr Bauarbeiter gibt, an. Die Zahl der Intensivbetten ist erstaunlicherweise im Laufe des Frühlings, der sehr warm war, gesunken.
Hier haben wir das mittelschwere Problem, dass wir einen Nebensatz (einmal einen Temporal/Konditionalsatz und einen Relativsatz) eingeschoben haben – und der muss ja an der „richtigen“ Stelle stehen. „Richtig“ heißt in diesem Fall: möglichst nahe an seinem Bezugswort. Es entstehen unfreiwillig komische Gebilde, wenn solche Zusätze an Stellen stehen, wo sie nun wirklich nicht hingehören. Mündlich würde sich dies in Pausen und Selbstunterbrechung des Sprechers niederschlagen:
Sie absolvierte innerhalb von 3 Jahren in unserem Unternehmen, im Rahmen einer Umschulung zur Industriekauffrau, das durch das Bildungsinstitut XYZ begleitet wird, ein vorgeschriebenes Praktikum.
Da ist einiges schief gelaufen, oder? Neben einer irrigen Syntax liegt hier auch noch ein semantischer (Bedeutungs-)Irrtum vor. Ich würde vorschlagen:
Sie absolvierte innerhalb von drei Jahren im Rahmen einer Umschulung zur Industriekauffrau, die durch das Bildungsinstitut XYZ begleitet wird, in unserem Unternehmen ein vorgeschriebenes Praktikum.
Sie absolvierte innerhalb von drei Jahren im Rahmen einer Umschulung zur Industriekauffrau, die durch das Bildungsinstitut XYZ begleitet wird, ein vorgeschriebenes Praktikum in unserem Unternehmen.
Sie absolvierte innerhalb von drei Jahren im Rahmen einer vom Bildungsinstitut XYZ begleiteten Umschulung zur Industriekauffrau ein vorgeschriebenes Praktikum in unserem Unternehmen.
Inwieweit die Information in diesem Beispiel stimmt, kann ich nicht sagen… Auch das müsste man noch hinterfragen: ist es das im Unternehmen vorgeschriebene Praktikum oder das in der Umschulung vorgeschriebene Praktikum. Gut, legen wir es weg. Das bringt mich auf ein letztes Strukturmerkmal der deutschen Sprache. Nein, ich meine nicht die besondere Stellung des Reflexivpronomens oder die etwas konfuse Negation mit den verschiedenen Stellungen des „nicht“, ich meine auch nicht die Verwendung des unpersönlichen „es“, sondern das TKML. Wieder müssen wir die lateinische Nomenklatur bemühen, sie ist in den meisten Grammatiken für die deutsche Sprache noch unabkömmlich, obwohl es seit den 80er Jahren (nageln Sie mich nicht fest) Bestrebungen gibt, eine Terminologie zu finden, die mehr den Erscheinungen der deutschen als der lateinischen Sprache entspricht. Es stimmt nicht, dass wir – indem wir Latein lernen – auch Deutsch verstehen lernen. Der Trick ist: lernen wir Latein, lernen wir das Denken in Strukturen, und sollten bzw. können dieses strukturelle Denken auf andere Sprachen anwenden, nicht aber deren Strukturen auf der Basis von Latein erklären. Zurück zu TKML.
temporal = T = Zeitangabe (wann, wie lange, wie oft)
kausal = K = Angabe eines Grundes (warum, aus welchem Grund?)
modal = M = Angabe über die Art und Weise (wie, auf welche Weise)
lokal = Lokal = Angabe des Ortes (wo, wohin, woher)
Nehmen wir diese Elemente (immer noch „nur“ Hauptsatz ohne neben- und unterordnenden Anhängsel) und fügen sie zu einem Satz, Subjekt, Prädikat und eine Objektangabe im Akkusativ sind ebenfalls einzubauen. Ich gebe eine Hilfe:
sehr aufgeregt – der Präsident – gestern morgen – eine Rede – auf dem Balkon seines Hauses – vor der Presse – aufgrund seiner Abwahl – hat – gehalten
Verzwickt ist hier die Angabe „vor der Presse“ – ist das lokal? ist das „medial“ (das wäre eine neue Kategorie). Aber ein paar Freiheiten haben wir noch, so auch die, dass wir dasjenige Element, das wir als „neu einzuführenden Inhalt“ ganz nach vorne an die Spitze holen können, bestimmen. Ich lasse Sie jetzt mal in Ruhe arbeiten und bin auf Ihr Ergebnis gespannt. Man kann sich das Akronym TKML übrigens auch als Satz merken: TANZEN KANN MAN LERNEN. Ist nur eins von den vielen Basis-Dingen, die man wissen kann.
Vielleicht schreibe ich das nächste Mal über das deutsche Tempussystem und das Verständnis von ZEIT. Ein ebenfalls sehr interessantes, ja hochphilosophisches Thema. Bis dann.