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ZUM STAND DER DEUTSCHEN SPRACHE

DEUTSCH ALS HANDLUNGSSPRACHE – JA, ALS BILDUNGSSPRACHE – NEIN?

 

„Die Schüler wie auch die Erwachsenen Deutschlands liegen mit ihren sprachlichen Kompetenzen unter dem europäischen Durchschnitt, und dies in einer modernen Wissensgesellschaft, die auf ein lebenslanges Lernen setzt, das wiederum überwiegend auf sprachlichen Kompetenzen wie dem verstehenden Lesen und dem strukturierten Schreiben beruht.“[1]

Hin und wieder, und so auch in der letzten Woche, höre ich Lehrer und Eltern sagen, in unseren Schulen scheiterten nicht wenige Schüler (mit und auch ohne Migrationshintergrund) an der deutschen „Bildungssprache“. Moment… Was heißt das?

Zunächst einmal heißt es, dass wir offensichtlich annehmen müssen, dass etlichen Schülern im Sach- und Fachunterricht kein angemessenes Sprachregister Deutsch zur Verfügung steht, um Aufgaben auf abstrakterem Niveau zu bewältigen. Diese Schüler sprechen ein Deutsch, das sie zum Sprachhandeln in Alltagssituationen befähigt. Sie sprechen Deutsch als Handlungssprache. Das aber genügt für den Fach- und Sachunterricht in der Schule nicht.

Leseausschnitt

Bereits 1979 stellte Jim Cummins – ein kanadischer Pädagoge – fest, dass Migrantenkinder altersübliche konversationelle L2-Kenntnisse im Gespräch mit anwesenden Hörern zwar schon nach relativ kurzer Lernzeit (ca. 2 Jahre) erwerben, sie jedoch die altersangemessenen Schulkenntnisniveaus erst nach 5 bis 7 Jahren Lernzeit erreichen.

Hinter den konversationellen sprachlichen Fertigkeiten liegt ein noch viel größerer Bereich sprachbezogener kognitiver Fertigkeiten. Diese Fertigkeiten sind insbesondere für den Umgang mit Schriftsprache erforderlich. Sie bilden sich im Laufe der schulischen Bildung, durch das Lesen und Bearbeiten von Sachtexten und dem Üben im Verfassen von Sachtexten heraus.

Quelle: https://spzwww.uni-muenster.de/griesha/sla/cummins/eisberg.html

Cummins führte die Unterscheidung in einen BICS- und einen CALP-Bereich ein, die Unterscheidung von grundlegenden konversationellen Sprachfertigkeiten und akademischen / schriftsprachlichen („literacy-related skills“) Sprachfertigkeiten. Die Kanadier hatten sich von jeher mit dem Phänomen der Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit von Menschen zu befassen, und sind im Jahr 2020 den anderen in Erkenntnis voraus.

Die Veranschaulichung im Schaubild und auch die Eisberg-Metapher sind insofern nicht vollends treffend, als sich der CALP-Bereich auf der Grundlage von BICS entwickelt, er im Bild aber als Grundlage des BICS-Bereichs erscheint. BICS ist also der Bereich im Vordergrund, auf den sich im Laufe der schulischen Entwicklung die CALP-Fertigkeiten herausbilden. Grundsätzlich gilt aber das, was vor 40 Jahren formuliert wurde, auch heute noch! Denken wir es weiter.

Die kognitiven oder akademischen Fertigkeiten (CALP) variieren – so das Ergebnis von 1979 – im Unterschied zu den BICS zwischen den Sprechern einer Sprache stark. Schüler, die einander also im mündlichen, konversationellen Bereich „ebenbürtig“ und nahezu identisch sprachlich handeln, bringen auf dem kognitiven Niveau möglicherweise sehr unterschiedliche, auch im Niveau unterschiedliche Texte hervor.

Das bedeutet auf unseren Schulalltag angewendet: Kinder, die erst im Einschulungsalter oder kurz davor mit Deutsch als zweiter Sprache in Kontakt kommen, können diese möglicherweise schnell als „funktionierende“ Handlungssprache erwerben, aber die angewendeten Merkmale der Bildungssprache hinken dahinter um Jahre zurück. Das bedeutet: sie können einem Unterricht folgen und sich beteiligen, solange es um mündliche Beiträge und Arbeiten geht. Doch sobald es an die Verschriftlichung z.B. von Arbeitsgruppenergebnissen oder Versuchsbeschreibungen und die Zusammenfassung von Sachtexten geht, scheitern sie. Es fehlen ihnen der Wortschatz, der präzise Wortgebrauch, die komplexen Satzmuster. Dieses Phänomen beobachten wir außerdem ebenso bei den deutsch-einsprachig aufgewachsenen Kandidaten zum Haupt- und Realschulabschluss wie auch bei den älteren Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Beides lässt uns fragen, wie wir Deutsch als Bildungssprache gezielter fördern bzw. die Kinder und Jugendlichen gezielter an die schriftliche Sprachverwendung heranführen könnten.

Was sind nun die Merkmale einer solchen mündlichen Handlungssprache?

    • Unvollständige und einfache Sätze (kaum Nebensätze)
    • Unpräziser Wortgebrauch
    • Viele Füllwörter
    • Wiederholungen
    • Gedankensprünge
    • Grammatikalische Fehler
    • Zirkuläre Argumentation


Die Merkmale der Bildungssprache sehen dagegen so aus:

    • Vollständige und komplexe Sätze
    • Präziser Sprachgebrauch
    • Großer Wortschatz
    • Keine Füllwörter
    • Wenig Wiederholungen
    • Keine Gedankensprünge
    • Keine grammatikalischen Fehler
    • Lineare Argumentation

Was die Bilingualität angeht, haben wir einiges mehr bei Cummins zu lesen: er setzt nämlich neben BICS und CALP noch ein drittes Potenzial an, und das ist das sprachübergreifende kognitive Potential. CUP nennt er es: Es gibt damit zwei sprachgebundene Oberflächenerscheinungen („surface features“) wie z. B. Artikulationsmuster und grammatische Regelsysteme. Jede Sprache hat eine eigene Oberflächenstruktur. Im Falle einer zweisprachigen Person gibt es zwei „Eisberge“ („First language surface feature“ und „Second language surface feature“).

L1 und L2 – Die Entwicklung der zweiten Sprache (in unserem Falle Deutsch) ist abhängig vom Stand der L1 zum Zeitpunkt der ersten intensiven Konfrontation mit der L2 (z. B. bei Beginn der Schulzeit). Wenn die Kompetenzen in der ersten Sprache (meistens die Sprache der Familie) zu diesem Zeitpunkt nicht ausreichend entwickelt ist, kann sich ein intensiver Kontakt mit der L2 in den ersten Schuljahren negativ auf die Entwicklung der L1 auswirken. Dies beeinträchtigt wiederum die Entwicklung der L2. Diese Interferenzhypothese wurde in den 70er und 80er Jahren in Kanada und den USA ausführlich beobachtet.

Auch mit der Schwellenniveauhypothese versucht Cummins, die kognitiven und schulischen Folgen verschiedener Formen von Zweisprachigkeit zu erklären. Er postuliert eine Abhängigkeit der kognitiv-akademischen Kompetenz von der Sprachkompetenz in beiden Sprachen. Cummins geht davon aus, dass es Schwellen gibt, die ein zweisprachiges Kind überschreiten muss, damit sich die Zweisprachigkeit positiv auf seine kognitiv-akademische Kompetenz auswirken kann.

Die erste Schwelle muss in beiden Sprachen überschritten sein, damit sich keine negativen Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung ergeben. Wird diese Schwelle nicht überschritten, entsteht Semilingualismus: In beiden Sprachen liegen keine ausreichenden Kompetenzen vor. Liegen die Sprachkompetenzen über der ersten Schwelle, ergibt sich eine dominante Zweisprachigkeit: Bei einer der beiden Sprachen liegt eine altersgemäße Kompetenz vor. Positive Effekte auf die kognitive Entwicklung ergeben sich erst nach Überschreiten der zweiten Schwelle. In diesem Fall handelt es sich um eine additive Zweisprachigkeit: In beiden Sprachen liegt eine altersgemäße Kompetenz vor.

Soweit die Hintergründe und die Theorie. Was heißt das in der Praxis? – Insbesondere in den vergangenen Monaten ist die Situation an Grund- und auch Hauptschulen prekär geworden. Aufgrund der Kontaktbeschränkungen (das setzt sich übrigens bis in die Kindertagesstätten fort) haben die Kinder keine oder nur sehr wenig Möglichkeit, ihre schulische Sprache, die Bildungssprache Deutsch, weiter auszubilden. Sie könnten sie sogar wieder verlieren, wenn der Kontakt zu lange ausbleibt. Die vielfach herbeigesehnte und proklamierte multikulturelle Gesellschaft steht im Bereich Schule und Bildung der Corona-Krise hilflos gegenüber. Multi-Kulti – ein Kunstbegriff besserer Zeiten – ist leider eine fragile Sache. Besonders in Krisen, das ist im individuellen nicht anders als in Kollektiven, besinnt sich ein wie auch immer geartetes Zugehörigkeitskollektiv auf seine gemeinsamen grundsätzlichen Verhaltensmechanismen (die auf gemeinsame und vereinbarte Werte und Regeln zurückgehen) und zieht sich auf diese zurück. In den multikulturellen Schulgemeinschaften an Brennpunkten in Deutschland gibt es keinen gemeinsamen Nenner, und die Verlierer sind all jene Kinder, die sich mit nichts identifizieren können oder dürfen.

Nachtrag ohne Sprachbezug, aber mit Hinweis auf ein Schulfach: Alle schauen immer auf das unsichtbare, körperlich krankmachende Virus, das über die Welt hereingebrochen zu sein scheint. Es ist – einmal vom unmedizinischen Blickwinkel und vom Metaphysischen her betrachtet – ein Beschleuniger für Separationsprozesse. Als ehemaliger Chemieaspirantin fällt mir da sofort ein Experiment ein, das wir im Praktikum durchzuführen hatten: Aus einem Gemisch (und jetzt werde ich astrologisch: Pluto-Jupiter), das mit Energie aus verschiedenen Teilen zusammengefügt wurde, werden wieder die Einzelelemente „ausgefällt“. Das Corona-Konzept löst mithin jene Verbindungen auf, die nicht zueinander gehören. Wir können von ihm lernen, wo die Menschen/die gewählten Regierungen/die Machthungrigen Vorstellungen von Zusammengehörigkeit aufgesessen sind und wo die Interessen von Einzelwesen außer Acht gelassen und diese in vorgaukelnderweise abhängig gemacht wurden.  

[1] Pegasus-Onlinezeitschrift XV (2015), Heft 2, Andrea Beyer: Wenn zwei sich streiten, freut sich dann der Dritte? Bildungssprache vs. Schulsprache – eine terminologische Untersuchung.

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