LÜCKEN

aus: Azraels Erzählungen, 2014/2015, Post-Virus–Syndrom oder doch Chronologie einer Neurose 🙂 mit leichten Aspekten von Wahnsinn?

Am 20.4. wurde ich um halb acht wach. Kurz darauf stellte ich fest, dass die Veränderungen begonnen hatten. Dieser Aussage können Sie zweierlei entnehmen: ich beobachte sehr genau (und konnte das schon als Kind) und ich nehme Veränderungen wahr. Veränderungen in der Umwelt. Ich erkenne etwas wieder, wenn es sich verändert hat. Wenn etwas sich nicht bewegt, kann ich es nicht von seinem Umkreis unterscheiden. Mit Menschen geht es mir ähnlich.

Niemand sonst außer mir – abgesehen von jenen, die eine ähnliche Beobachtungsgabe haben – ist deshalb in der Lage, zu datieren, wann genau es angefangen hat. Sie werden den Beginn schätzen müssen, und sich vermutlich gründlich verschätzen, denn die ersten Anzeichen von tiefgreifenden Veränderungen sind wie immer fein und unspektakulär. Sie stehlen sich ins Bewusstsein, und weniger begabte Menschen finden im Allgemeinen nur dumme Erklärungen, die nichts mit der Ursache der Phänomene zu tun haben – oder überhaupt keine, was noch schlimmer ist, weil damit Veränderungen als Nichtveränderungen verspielt werden.

Am 20.4. war die Sonne – wie sie es um diese Zeit des Frühlings tut – etwa um 6.19 Uhr aufgegangen, d.h. das Morgengrauen hatte eine halbe Stunde zuvor begonnen. Zu diesem Zeitpunkt hören die Vögel auf zu singen und werden ruhig, bis die Sonne über dem Horizont ankommt. 1 ½ Stunden später ist erfahrungsgemäß bereits soviel Tag, dass das erste Licht des Tages – fahl, friedlich – von einem härteren abgelöst wird. Nun muss ich sagen, dass ich in der Stadt lebe. Ob meine Beobachtungen auch für Landregionen gelten, kann ich nicht beurteilen.

Ich wachte also auf, öffnete die Augen, warf einen Blick auf den Wecker (halb acht!) und setzte meine Brille auf. Ich nahm sie aber sofort wieder ab. Sie war weder fleckig noch fettig, und trotzdem ergab ihr Aufsetzen keine Sichtbesserung, dafür aber eine ungewöhnliche Milchigkeit. Der Himmel, den ich vom Bett aus sehen konnte, war ohne Wolken. Bereits seit Tagen war das Wetter für die Jahreszeit sehr warm; willkommen nach dem lichtarmen und kalten Winter… Nun würde die Sonne also den vierten Tag in Folge scheinen. Ich muss sicher nicht hervorheben, dass bei wolkigem Wetter die Lichtverhältnisse anders als bei wolkenfreiem Himmel sind. – Und dann bemerkte ich die Veränderung.

Auf der Häuserwand gegenüber prangt eine überdimensionale Werbung. Ich kann sie sehen, wenn ich mich auf dem Bettrand sitzend nach vorne beuge, was ich wie an jedem Morgen getan hatte. Die Wörter in der Titelzeile: unvollständig. Waren etwa Buchstaben herausgefallen? Teile über Nacht abgeblättert?


Auf meinem Nachttisch liegt immer ein Buch, auch dann, wenn ich gerade in Arbeit ertrinke, keine Zeit zum Lesen habe und es über Wochen ungelesen bleiben wird. Ich griff nach dem dort liegenden Buch und schlug eine beliebige Seite auf. Der Text war da, Buchstaben reihten sich zu Wörtern, zu Sätzen, zu Abschnitten – klar, ich konnte den Text lesen. Ein geübter Leser kann einen Text erlesen, auch wenn die Buchstaben oben oder unten abgeschnitten sind. Kein geübter Leser liest Wort für Wort, sondern überfliegt einen Text und erfasst seinen Sinn. Auch wenn jedes dritte oder vierte Wort in einem längeren Satz fehlt, kann er dieses hinzufinden, sobald er den Kontext erfasst hat. Mein aufgeschlagener Ausschnitt war zwar nicht lückenhaft, aber die Buchstaben drängten mir entgegen als würden sie geradewegs aus dem Buch herausgesogen, als schlürfe das Licht sie in diesem Moment auf.

Buchstaben auf Papier, besonders wenn sie gedruckt sind, ergeben ein Muster. Sie ergeben ein umso variationsreicheres Muster je mehr Buchstaben einer Sprache zur Verfügung stehen und nach den Lautgesetzen dieser Sprache miteinander kombiniert werden können. Ich bin keine Mathematikerin, also kann ich nicht ausrechnen, wie viele Kombinationsmöglichkeiten die deutsche Sprache bereithält. Ist auch egal, darauf will ich nicht hinaus. Halten Sie nur einmal eine Buchseite weit genug von Ihren Augen entfernt, so dass Sie sie im Überblick haben. Zoomen Sie sich weg von den einzelnen Buchstaben und sehen Sie das Ganze. Sie werden ein waagerecht angeordnetes Muster sehen. Sie sehen Linien. Diese Linien enthalten Gruppierungen von Zeichen in unterschiedlicher Länge. Das ist das Muster in Büchern: unregelmäßig regelmäßig.

Auf meiner Doppelseite wurden aber nicht nur die Linien nach außen gesogen – es gab außerdem blinde Flecken im Muster, wo sie nicht hingehörten.

Ich legte das Buch, auf einen neuen Gedanken gestoßen, zur Seite und ging in die Küche. Muster! Auf den Küchentisch hatte ich ein gestern neu gekauftes farbenfrohes Set drapiert. Normalerweise mag ich allzu Buntes nicht. Oder sagen wir: die Kombination bestimmter Farben miteinander gefällt mir nicht. Ich mag keine Braun- und Blautöne nebeneinander, es sei denn es ist ein helles Coelinblau, das in der Umgebung eines dunklen Braun noch frischer und meeriger wird. Orange und Rot – nein, das geht gar nicht. Gelb und Lavendel – schrecklich. Nun gut. Ich hatte mich hinreißen lassen, mehrere Sets mit Rhombenmuster zu kaufen. Die Rhomben darauf abwechselnd grün und blau, die Umrandung der Rhomben in einem leichten Zitronengelb. Das Grün das von saftigem Gras, das Blau jenes Blau eines Sommerhimmels, in dem man schlichtweg versinken kann. Die Küche gewann durch die Farben. Und gut, dass ich mir gestern das Muster genau angesehen und sogar skizziert hatte. So sah es gestern aus (die schlechte Qualität sehen Sie mir bitte nach, ich habe ganz schnell mit dem alten Wasserfarbmalkasten und freihändig gemalt):

Jetzt, heute, im Licht des 20.4. um Viertel vor 8 Uhr (immerhin waren 15 Minuten mit der Untersuchung des Buches vergangen) lösten sich die gelben Linien auf. Dort, wo die grünen und blauen Flächen aneinander grenzten und wo zuvor ein feiner gelber Streifen gewesen war, waberte ein diffus-freier Raum, ausgefranst, schummrig, neblig. Es war, als hätte jemand das Gelb wegzuradieren oder es mit dem Ultraweichzeichner eines Grafikprogramms herauszulöschen versucht.

Ich nahm meine Brille ab, putzte sie, setzte sie wieder auf. Manchmal schwitzen meine Augen, dann legt sich ein Schleier auf die Innenseite der Brillengläser. Aber dem war jetzt nicht so. Eigentlich hätte ich längst meinen Kaffee aufsetzen und mich den wichtigen Dingen des Tages zuwenden müssen. Um elf würde ich einen Termin haben. Wenn ich mich weiter mit derlei Dingen aufhielte, würde ich in Zeitdruck geraten…

Ich lief zum Bett zurück und schlug erneut mein Buch dort auf, wo ich zuvor die Flecken gesehen hatte. Nun bin ich abgesehen davon, dass ich keine Mathematikerin bin, auch weder Typo- noch gar Chirografin. Ich würde auch nicht viel erkennen und unterscheiden können, weil sich an einem einmal bestehenden Schriftbild bekanntlich nichts mehr verändert und ich doch die bin, die die Veränderungen im Laufe eines Beobachtungszeitraumes wahrnimmt. Allerdings kenne ich mich hinwiederum mit Formen aus, und so ganz fremd ist mir das Thema Schrift dann doch nicht.Ich griff nun willkürlich folgenden Satz heraus und betrachtete ihn in seiner Fleckigkeit näher: Gesetzt in einer serifenlosen Schrift. Ich z.B. schreibe den vorliegenden Text in Calibri, das ebenfalls eine serifenlose Schrift ist. Serifenloses Arial wird in wissenschaftlichen Büchern verwendet. Times New Roman ist eine Serifenschrift; sie hat Füßchen und Häkchen, man nennt das auch „verziert“. Serifen wird nachgesagt, dass sie einen Text leserlicher machen. Ein Leser wird quasi von Buchstabe zu Buchstabe geschwungen. – Aber das führt an dieser Stelle zu weit… In meinem Buch war folgendes geschehen: Zu erkennen war eindeutig, dass Bögen auf der rechten Seite von Buchstaben, insbesondere dem „e“ und dem „b“, fehlten. Übrigens, noch als Nachtrag: von jeher interessieren mich die Grenzen, also das, was bei Flächen und Formen aneinandergrenzt (oder eben nicht) oder aber ineinander übergeht. Ich musste jetzt feststellen, dass – wie Sie ebenfalls sehen können – der Text zwar noch zu entziffern war, aber durchaus Ansätze von Auflösung zeigte.

Nach dieser Entdeckung setzte ich meinen Kaffee auf und ging ins Bad. Meine Uhr zeigte Viertel nach acht und ich war trotz der unerwartet notwendig gewordenen aufwendigen Auseinandersetzung mit dem Phänomen doch noch gut in der Zeit. Um elf würde ich plangemäß dem alten Kunden – er wollte seinem Freund unbedingt ein posthumes Geschenk machen – ein Angebot für eine Buchgestaltung unterbreiten können. Anschließend stünde ein Einzelunterricht bei einem Kunden von außerhalb auf dem Plan. Der würde von 14.00 bis 18:00 dauern. Halten Sie mich bitte nicht für zahlenfixiert. Meine Arbeit verlangt diese präzise Choreographie, ich kann nichts dem Zufall überlassen.

Ins Bad reicht kein natürliches Licht, weil es kein Fenster hat. Eine unverwüstliche Neonröhre spendet Licht. Hier fehlten übrigens weder die Farbe Gelb auf den sparsam gemusterten Handtüchern und den Duschbadflaschen, noch die Rundbögen der „e“ und „b“ auf der Zahnpastatube und dem Tiegel meiner Tagescreme. Alles da wie immer. „Du wirst also doch verrückt“, sagte ich zu meinem Spiegelbild. Ich hatte immer geahnt, dass ich es werden könnte, und damit kokettiert, ich könnte den Vorgang willentlich noch beschleunigen.

Während ich frühstückte, mich halb im Schlafzimmer, halb in der Küche umherlaufend anzog, Telefonate entgegennahm und schließlich Herrn Karolo empfing, vergaß ich meine morgendliche Entdeckung.

Der Tag wurde warm unter blauem Himmel; die Sonne schien ohne Unterbrechung und die Menschen waren gut gelaunt. Um sieben war ich wieder zuhause, machte mir noch die Arbeit des Staubsaugens, rückte dabei auch ein paar Möbel um. Bei jedem Saubermachen werden bei mir Möbel verrückt. Tom hat sich inzwischen daran gewöhnt. Ich mag den Platz großzügig: hier ein Möbelstück quer, dort eine Ecke frei und nicht praktisch genutzt und voll gestellt. Bei Platz und Raum bin ich verschwenderisch – übrigens auch auf dem Papier. Meine Handschrift ist groß und großzügig. Mit Geld bin ich wesentlich sparsamer.

Nicht wenige Leute richten ihre Zimmer so (unten) ein, ich würde, wenn ich eines für mich alleine hätte, meines so (oben) einrichten:

Das Buch lag natürlich da, wo ich es hingelegt hatte. Wer hätte es wegnehmen sollen? Tom war seit drei Wochen in London und auch nicht überraschend zurückgekommen. Vom Bett aus war nicht nur die Wand mit dem Werbeschriftzug zu sehen, sondern auch der Himmel. Ich konnte ihm, selbst wenn ich gewollt hätte, nicht entkommen. Obwohl es jetzt auf halb acht zuging und die Zeit der Dämmerung begann, war er wie heute Morgen und den ganzen Tag ungewöhnlich blau. Das Sonnenlicht bahnte sich indirekt vom gegenüberliegenden Dach seinen Weg ins Zimmer. Es war ein stilles, schweres Licht, das in Kontrast zum Blau des Himmels stand. Still, ja, das war das richtige Wort. Das Blau war laut und expressiv, aber das Licht kaum hörbar und kollabiert. Mein Blick ins Buch in diesem stillen Licht erbrachte folgendes:


Das war eine wesentliche Veränderung zur Ansicht von heute Morgen! Es fehlten nunmehr sämtliche Rundbögen. Das sah ja fast so aus, als wäre das Buch bzw. der Text in meiner Abwesenheit chiffriert worden, die Doppelseite war leer geräumt, und erschließen – na, ich weiß nicht. Könnten Sie da noch etwas erschließen, wenn Sie nicht schon wüssten, was da steht?

Ich nahm das Buch, ging mit ihm ins Bad, machte die Tür hinter mir zu und erst dann die Neonröhre an. Ich hielt die Doppelseite unter das Licht – und alles war da. Anschließend holte ich eins der Tischsets, die im diffus-stillen Licht der Dämmerung blau-grün-rhombisch auf dem Tisch ausgeharrt hatten, und unterzog sie derselben Prozedur. Die aufgelösten Linien kamen im künstlichen Licht wieder zum Vorschein wie Umrisse auf Fotopapier in Entwicklerflüssigkeit. Schließlich waren alle Linien in Zitronengelb wieder vorhanden.

Um halb neun war die Sonne untergegangen. Ich machte die Lichter in der Wohnung an und schrieb meine Beobachtungen auf:

20.4. 2011, Mittwoch, 1. Tag, Veränderungen manifestieren sich

7:30-8.00 Uhr : Im Sonnenlicht: Text im Buch scheint nach außen zu „fliehen“; runde Bögen der Buchstaben e und b (im Buch XXXX, Schrifttype Arial PT 12) sind verwischt bzw. wie ausradiert. Die zitronengelbe Farbe zwischen Grün- und Blauflächen (auf Tisch-sets aus Leinen) verschwindet; auch hier „Blur“-Effekt.

19:30: Aus dem Buch sämtliche Rundbögen verschwunden, aber: im künstlichen Licht vom Badezimmer ist alles da. Im Bad auch Wiedererscheinen der gelben Linienfarbe.

Zu meiner Entschuldigung muss ich sagen: ich habe weder ein weiteres Buch, noch eine weitere farbige Decke auf Vorhandensein oder Abwesenheit von Bögen und gelber Farbe geprüft. Ich bin Empirikerin genug, um zu wissen, dass ich das hätte tun müssen, leistete mir an diesem bemerkenswerten Tag jedoch den Luxus und die Fahrlässigkeit einer schnellen Gewissheit. Aufschreiben allerdings war unerlässlich. Den unbeholfenen Ton müssen Sie ebenfalls entschuldigen: dass ich Versuchsprotokolle geschrieben habe, liegt Jahrzehnte zurück.

Nachdem ich meine Beobachtungen aufgeschrieben hatte, kamen mir meine Zeilen banal vor. Sie waren letztlich nicht mehr als eine flüchtige Wahrnehmung harmloser, womöglich am nächsten Tag bereits wieder revidierter Verschiebungen, kaum der Rede wert. Am Ende des Tages tendierte ich nun doch zu dem Verdacht, dass meine Augen nachließen und meine Beobachtungsgabe mich an der Nase herumführte. Dass ich in nicht allzu ferner Zukunft einen grauen Star bekäme, hatte mir meine Augenärztin bereits vor einem Jahr angekündigt.

Am nächsten Tag hatte ich viel vor und morgens keinen Blick für vermilchte Buchstaben in Büchern und ausgefranste Farben auf Tischdecken. Als ich wieder an beides dachte, war es zehn Uhr vorbei und die Lichtverhältnisse waren normal und stabil. Ich traf Kollegen. Niemand machte auch nur ansatzweise Andeutungen, die eventuelle ungewöhnliche Veränderungen betrafen. Ich stellte keinerlei Fragen in Richtung „Stilles Licht“ und entging damit ihrer sicheren, instinktiven Einschätzung, dass ich verrückt sei. Selena ihrerseits erzählte von ihren Schwierigkeiten mit den Augen – erhöhter Druck und Linsentrübung, besonders schlimm morgens und abends, sagte sie, seit zwei Tagen zunehmend. Richard hatte am Morgen die Fotokopiererleasingfirma anrufen müssen, damit die kam und das Gerät austauschte. Er hatte Materialien für eine Klasse von 30 Schülern kopiert, aber der Kopierer hatte Tonerprobleme und die Kopien waren allesamt für den Schredder. Auf Nachfrage Petras hin berichtete er, im Druckbild seien Lücken gewesen, und solche Kopien könne man nicht gebrauchen.

Helen war belustigt darüber, dass sie ihre großen runden Ohrringe, die sie zuhause an ihre Ohrläppchen gehängt hatte, in den Schaufenstern zwischen der U-Bahn-Station und der Schule nicht hatte sehen können. Da sie in beiden Händen Taschen trug und sie außerdem schon spät und deshalb in Hetze war, hatte sie nicht nach ihnen fingern können. Der Spiegel in der sich im Keller befindlichen Schulküche hatte ihr signalisiert, dass alles in Ordnung war. Dessen hatten sich ihre Finger dann auch noch zusätzlich vergewissern können.

Ellen rief mich abends um 6 Minuten nach neun an. Sie sei auf dem Friedhof gewesen und habe das Grab ihrer Mutter bepflanzt, denn es sei das allerherrlichste Wetter gewesen. Sie sei so stolz auf ihre vielfarbigen Blüten rund um den Grabstein, hinten an der Grenze zum Waldstück gewesen. Aber sie hätte sich wohl doch überanstrengt und so etwas wie einen Schlaganfall gehabt: Auf einmal habe sie alles Runde und Gelbe nicht mehr sehen können. Alle gelben Blumen seien wie ausgeschnitten gewesen… Ellen ist exaltiert und diagnostiziert bei kleinsten Anzeichen Gehirnblutungen oder Krebs oder beides. Ich beruhigte sie damit, dass doch jetzt, in der Dunkelheit, Rundes und Gelbes wieder zu sehen seien. Sie brauche den Notarzt nicht zu rufen, alles sei wieder in Ordnung. Ja, lachte sie erleichtert.

Auch am 22.4. hielt das heiße Sonnenwetter an. Die ersten Zeitungen plärrten vom nun doch eingetretenen Klimawandel. Jetzt ist er da! stand in Riesenlettern auf einigen Titelblättern. Gut, dass die Lettern in Rot und nicht in Gelb gedruckt waren, sonst wären den Zeitungskäufern und -verkäuferinnen rund um den Sonnenaufgang die Augen aus dem Kopf gefallen. Dass die Bögen aus dem „J“, dem „S“, dem „R“ und dem „D“ zeitweilig verschwunden waren, war wohl niemandem aufgefallen. Im Innenteil der Zeitung wurde einerseits der neue Zeitgeist beschrieen: friedlich, still und konstant sollte er sein, wie das Wetter in diesen Tagen. Andererseits fanden die ewigen Meckerer nichts Friedliches an der nachhaltigen Dauersonnenberieselung, die fleckenlos die Katastrophenmeldungen aus der Welt verhöhnte. Die Erde bebte, Meere holten sich Menschenland, Cäsium 137 legte sich unter lautem Knacken der Geigerzähler auf Häuser und Wälder, Kriege wurden angefangen und eskalierten zu aus dem Ruder laufenden Gemetzeln.

Am 2.5. – einem Montag – wurde das Wetter kurzzeitig schlechter. Wolken zogen auf, aber das bedeutete nicht, dass es kälter wurde. Eher im Gegenteil. Die Farbe Gelb, die nach 12 Tagen Dauersonnenschein fast völlig verschwunden gewesen war, kehrte zurück. Dafür verschwand das Grün. Die runden Formen kehrten ebenfalls zurück, aber dafür fielen sämtliche Diagonalen aus. Alles Schräge verfranste, vermilchte, verschwand oder wurde unsichtbar. Stellen Sie sich vor, wie die Tischsets in meiner Küche aussahen! Die Wolken brachten bläulicheres stilles Licht mit sich, und auch, dass andere Formen als zuvor sich auflösten.

Tom würde morgen zurückkommen. Er würde sich sehr wundern: ich hatte mir angewöhnt, die Gardinen in der Wohnung zuzuziehen und alle nötigen Handgriffe für die Arbeit oder im Haushalt bei künstlichem Licht zu verrichten. (Wir haben tagelang nicht miteinander telefoniert; er war außer Reichweite von Computern und Telefonen. Deshalb wusste ich auch nicht, ob ihn die Lücken ebenfalls eingeholt hatten.) Neonlicht eignete sich am besten, aber Glühbirnen mit 100 Watt gingen auch. Ich legte uns ein großes Lager an Glühbirnen und Neonröhren an. Alles andere Licht fraß Farben und Formen. Das Badezimmer wurde mein Lieblingsort. Mit dem Wetter, bei Hochdrucklage anders als bei Tiefdrucklage, wechselten die Lichtverhältnisse und mit ihnen die Lücken, im Bad konnte mir das nichts anhaben. Ich nahm sogar meinen Farbkasten mit.

Für meine Arbeit fahre ich in sehr unterschiedliche Firmen und an unterschiedliche Plätze. Gemeinsam ist allen, dass dort überwiegend in künstlichem Licht gearbeitet wird. Meine Kunden arbeiten mit Computern und an Monitoren, in denen Millionen von Farben und Formen generiert werden können, und in Nacht- oder Spätschichten. Sie schlafen tagsüber; sie haben keine Augen für das, was draußen vor sich geht. Sie leben in einer Formen- und Farbenwelt, die realer ist als die echte.

Die Lücken waren niemals Gegenstand eines Gesprächs. Ich weiß deshalb nicht, ob meine Kunden – und das gilt ebenso für meine Kollegen, wenn sie denn überhaupt Lücken sahen – die gleichen Lücken sahen, die gleichen Farben gerade nicht oder gerade doch wahrnehmen konnten, oder ob jeder eine andere Zeit des „stillen“ Lichts hatte. Ich fragte mich auch, ob nicht die Tatsache, dass sie und wir alle so viele Farben und Formen künstlich herbeizaubern konnten, die Farben und Formen draußen überflüssig machten.

Seit dem 2. Juni ist zumindest eine erste öffentliche Maßnahme gegen die Buchstabenauflösungen wirksam. Diese eine Gefahr hat man benannt, obwohl ich niemanden habe öffentlich darüber reden hören; es wurde reagiert – und damit ist sie gebannt. LKWs kamen durch die Straßen, mit Megaphonen verstärkt wurde ausgerufen, dass jeder Einwohner seine unbrauchbar gewordenen Schriftdokumente abgeben könne. Sie sammelten alte Bücher ein (wiederverwertbar, kostbarer Rohstoff) und gaben Geräte aus, auf denen die Buchstaben in künstlichem Licht leuchten. Zeitungen vermisst meiner Beobachtung nach keiner – es gibt genügend Bildschirme überall auf den Häuserwänden in den Straßen. Es blinkt und leuchtet einfach überall.

Niemand jedoch, außer jenen, die wie ich die Veränderungen und nicht die Kontinuität von etwas sehen, hat bemerkt, dass neuerdings aus den Lauten der Stadt etliche Töne herausfallen. Es gibt Lautlücken, ja, ganze Teile aus Wörtern fehlen. Tom, der seit dem 3. Mai wieder da ist und beunruhigende Beobachtungen aus London mitgebracht hat, und ich haben es unabhängig voneinander mehrfach überprüft und auch aufgeschrieben. (Wir können dabei nicht verhindern, dass es uns selbst passiert – mir übrigens viel mehr als ihm. Wie es bei Männern üblich ist, spricht Tom über viele beängstigende Dinge nicht.) Sehen Sie sich folgende Sprachprobe an, die ich in der U-Bahn aufschnappte:

I wüne Ihnen ein gutes Geäft und ein wunderönes Woenende.“

Was die Groß- und Kleinschreibung angeht, habe ich die gängige Rechtschreibung verwendet. Und natürlich können Sie erschließen, welche Laute hier fehlen. – Am selben Abend hörte ich noch anderes (s.u.) und wunderte mich nicht, dass der Gesprächspartner es selbstverständlich verstand. Dass er dann lachte und antwortete, verdutzte mich ebenfalls nicht:

Hrzlchn Glckwnsch zm Gbrtstg. W lt wrst d dn?“

Dnk. Ch bn jtzt Vrzg. Mrgn mch ch n Prt, kmmst d ch?“

Sie können es lesen, weil ich Ihnen die visuelle Hilfe gebe. Genau genommen haben wir es im Falle des Gesprochenen auch nicht mit Lücken, sondern mit Zusammenziehungen zu tun, weil die Lücken im Sprechfluss geschlossen werden. Wenn Sie es als Lautkontinuum hören würden, so, wie ich es hörte, wäre das etwa so:

hrzlchnglckwnschzmgbrtstg. wlt wrstddn? – dnk. chbnjtztvrzg. mrgnmchchnprtkmmstdch?

Ich habe noch keinen Ort gefunden, an dem Lautlücken wieder hörbar werden. Für den Bruchteil eines Moments ist mir ein Schreck durch die Glieder gefahren: Was, wenn es meine Ohren sind? Ich konnte immer gut hören, viel besser hören noch als sehen. Ohne Laute könnte ich nicht leben. Wenn es nun an meinen Ohren läge? Ich habe mich jedoch wieder beruhigt; meine Beobachtung ergab, dass es auch andere Menschen um mich herum betrifft. – Inwieweit die Lautlücken mit dem Licht korrelieren, erschließt sich mir bis jetzt noch nicht. Das Wetter ist übrigens inzwischen weiter sonnig. Seit Anfang April hat es nicht geregnet, alles ist vertrocknet. Bäume, Sträucher, Gras braun geworden, bevor sie ausgeblüht sind. Es wird vorhergesagt, dass das Grundwasser absinken wird – so schnell geht das jetzt!

Weder Tom noch ich sind Physiker genug, um die Theorie, dass es sich um eine Interferenz unserer Sprache mit Wellen von ungewöhnlich hoher Frequenz handelt, zu beweisen. Es könnte auch sein, dass der fehlende Wasserschall (wie ihn Regen oder Wasser allgemein verursachen würde) bewirkt, dass, in seiner Umgebung mit auftauchende Laute verschwinden. Sind eigentlich eher Vokale mit Wasser assoziiert oder Rachenlaute und Frikative? Wir sollten eine Versuchsreihe mit Sprachaufnahmen machen – in An- und in Abwesenheit von Wasser, in An- und Abwesenheit von natürlichem Licht. Das werde ich Tom vorschlagen. (Ich sehe ihn inzwischen selten. Er ist viel draußen unterwegs, während ich das Badezimmer vorziehe.) Wenn nämlich Wasser- und Lichtverhältnisse miteinander korrespondieren, und nicht willkürlich und voneinander unabhängig auftreten, stünde uns tatsächlich eine interessante Zeit bevor.

Bei allerblausten Lichtverhältnissen, schön anzusehen – vorsichtig ausgedrückt, weil ich es nur für die Stadt und eigentlich auch nur für den sichtbaren Himmelausschnitt vom Bett aus weiß und nicht für die Landregionen – gewinnt unsere Welt mit jedem Tag an Form- und Farbvereinheitlichung, wird die Sprache kürzer und kompakter, die Lautwelt übersichtlicher.

Neuerdings sehe ich Teile meines Körpers nicht mehr, selbst wenn ich mich im Bad aufhalte. Das gibt mir neu zu denken. Wenn ich einen Laut herausbringen will, kann ich das zu Sagende, das ich akribisch plane, weil ich effizient spreche, nicht ohne weiteres lautieren. Die Fugen zwischen den gelben Kacheln fransen aus und wabern unbestimmt und um mich herum wird es zusehends heller und stiller.

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