Drei Rabbiner sitzen zusammen an einem bitterkalten Sabbat[1], und sie geraten in einen Disput über die Frage des Feueranzündens. Zwei von ihnen meinen, unter den gegebenen Umständen müsse Gott ein Einsehen haben und ihnen die Arbeit des Anzündens erlauben, der dritte aber hält am Wort fest und ruft Gott dreimal um ein Zeichen an, dass er Recht habe. Er bekommt die Bestätigungen. Die beiden anderen nehmen dies zur Kenntnis, entscheiden sich aber doch – weil sie die Mehrheit stellen – für ein Feuer. Der überstimmte Rabbi entfernt sich daraufhin. Auf seinem Wege trifft er den Propheten Elias und bittet ihn voller Sorge darum, doch nachzuschauen, was Gott von der Missachtung seiner Weisung halte. – Als Elias nach kurzer Zeit zurückkehrt, berichtet er: “Der Herr hat sich in sein Zimmer eingeschlossen. Ich wagte einen Blick durch das Schlüsselloch – und sah ihn die Hora tanzen. Dazu sang er: “Meine Kinder sind endlich mündig geworden.”[2]
In der Nacht fielen mir – nach den Gedanken und Geschehnissen des gestrigen Tages – (traurige und nachdenkliche) Tage und Gedanken aus dem Jahr 2008/2009 ein. Zeit, sofern man das so greifen will, bewegt sich spiralig, nämlich in Kreisen und gleichzeitig linear. Und so kommt es vor, dass ein jeder zu gegebener Zeit nochmals über jenem Punkt innehält, an dem er Jahre zuvor bereits gelernt hat. Von neuer Warte, vielleicht von höherer. Aber manchmal regredieren wir auch. Das Buch, das ich vor 15 Jahren schrieb, setzte sich aus Briefen zusammen – den ersten habe ich tatsächlich nach Rom geschickt (und erhielt Antwort). Es sind 12 Briefe geworden, Dantes Satz habe ich dem 6. Brief vorangestellt. Der Brief beginnt mit einem balladischen Gedicht („Die Sünden meines Vaters“) und endet mit einer Betrachtung von Krieg und Frieden. Mit meinen jetzt älteren Augen liest sich das alles (ich war 50 Jahre alt) vergleichsweise „naiv“ – wo sind wir inzwischen schon … Eine gute Bekannte aus der Verlagszeit hatte ein Vorwort geschrieben, das ich hier beilege:
Vorwort
Briefe an den Heiligen Vater? – Gehören die denn überhaupt an die Öffentlichkeit? – Private Briefe sind etwas zutiefst Persönliches, gehen nur den Schreiber und den Adressaten an. Da ist eine Hemmschwelle, sie zu öffnen, eine vage Angst vor dem, was sie offenbaren könnten – wollen wir das wirklich lesen?
Aber dann ist da auch Neugier, die am Ende siegt. Wenn derart private Briefe öffentlich werden, gibt sich darin der Verfasser nicht preis? Stellt er sich nicht bloß? – Warum nur tut er das?
Die Briefe, die Karin Afshar an den Heiligen Vater schreibt, sind Momentaufnahmen aus ihrem Leben in Zeitlupe, spontan zu Papier gebracht oder mit dem Abstand vergangener Jahre nach-durchlebt. Dem Leser begegnen darin Vertrautes und völlig Fremdes, Empfindungen und Gedanken, die hier seine Zustimmung, dort seinen Widerspruch wecken. Die, die diese Briefe schreibt, stellt Fragen, wie jeder von uns sie sich von Zeit zu Zeit stellt, vor allem aber stellt sie das in der Welt Gesehene, im Leben Vorgefundene und sich selbst infrage.
Damit nun werden diese persönlichen Briefe zu einem Allgemeingut, denn sie werfen Licht-Blicke auf so manches im Dunkel Bleibende und Gebliebene in unser aller LebensRaum.
Die Stimme Karin Afshars lässt die Gedanken vieler Mitmenschen Laut und somit hörbar werden ohne zu fordern. Scheinbar sogar ohne Ziel. Das Anliegen der Briefe ist das Mit-Teilen, das Angebot zum NachDenken und NachEmpfinden, und nicht das vordergründige Erlangen von Antworten.
Doch wozu sollte jemand Probleme beschreiben und Fragen stellen, wenn nicht Antworten das Ziel sind? Die meisten Menschen möchten schnelle und einfache, klare Antworten bekommen. Antworten beruhigen uns, füllen die Leere der Fragen – und schläfern die Gedanken ein. Sie bringen uns nicht voran, sondern lassen uns erstarren. Wachsen und uns weiter entwickeln werden wir nur an unseren Fragen und an der SUCHE nach Erklärungen und Antworten. “Der Weg ist das Ziel.” (Konfuzius)
Wenn diese Suche, dieses Hinterfragen dessen, was angeblich so und nicht anders ist und zu sein hat, zur Konfrontation mit bestehenden Werten und Normen führt, dann endlich sind wir auf dem Weg zu unserer bereits in der Schöpfung angelegten Bestimmung, ganz Mensch und deshalb einzigartiges, mündiges Selbst zu sein.
Geschrieben von: Doris Killmer im Februar 2009
[1] Am Sabbat ist es bekanntlich nicht gestattet zu arbeiten, also auch kein Feuer anzuzünden. Talmud (Kap. 35,3): „Ihr sollt am Sabbat kein Feuer anzünden in all euern Wohnsitzen
[2] Nach einer auf einer alten jüdischen Legende basierenden Erzählung von Rabbi Salomon Schachter, Philadelphia