Deutsch fehlt
Auf den Titel komme ich am Schluss zurück. Anfangen aber werde ich mit einem Rückblick ins Jahr 2012, das Jahr, in dem ich insgesamt vielleicht vier geisteswissenschaftliche Hausarbeiten und Masterarbeiten mitbetreute. Inoffiziell, versteht sich, denn ich war in keiner „öffentlichen Funktion“ an irgendeiner Universität beteiligt. Mein Geheim-Auftrag bestand darin, die Texte sprachlich-stilistisch fein zu stimmen, Rechtschreibung eingeschlossen. Der Vorgang lief dann so ab: Ich erhielt die Endfassung der Arbeiten, deren Gliederung einschließlich Literaturverzeichnis und Organisation der Fußnoten abgeschlossen und deren Formatierung ebenfalls bewältigt war. Äußerlichkeiten, Formsachen… doch Formsachen und Inhalt gehen Hand in Hand. Dass solche schriftlichen Arbeiten geschrieben werden, hat seinen Ursprung darin, dass die Universitätslehrer oder die Dozenten daran ersehen wollen, ob der Kandidat den aufgegebenen oder selbst gewählten Stoff inhaltlich verstanden hat, ihn bearbeiten, bündeln und mit entsprechenden Beispielen begründet sprachlich ausdrücken kann. Mit einer Abschlussarbeit legt der „Kandidat“ ein Zeugnis der Reife ab. Reife bedeutet in diesem Fall, dass er die geistigen Ideen wie auch die mechanischen Instrumente beherrscht, die ihn als angehenden Lehrer (ich meine hier nicht den Lehrerberuf, für den ein Lehramtsstudium nötig ist, sondern den philosophischen Lehrer), der er selbst ja sein will, ausweisen. Es heißt in verschiedenen Prüfungsordnungen, dass zumindest die Master- wie auch Doktorarbeiten ein hohes Maß an eigenständigem Arbeiten zeigen müssen. So wird das nicht ausgedrückt, in Gremiendeutsch heißt es inzwischen auch noch anders (und für das Jahr 2023 mag ich gar nicht sprechen, ich weiß nicht, wie jetzt formuliert wird). Ich jedenfalls habe das noch vor 25 Jahren so verstanden: Ich darf, nein: ich muss, mir „eigene Gedanken“ machen und sie nach den Regeln der sprachphilosophischen Begründungskunst belegen oder widerlegen. Kann ich das nicht, bin ich am falschen Ort.
Der Begriff „Prüfungsordnung“ drückt nun schon den Ernst der Sache aus: man (als Schüler, der man noch ist) hat sich an bestimmte Vorgaben zu halten. Diese haben – abgesehen davon, dass sie von allen Jungspunden vehement bekämpft werden – ihre Bedeutung. Grenzen haben immer eine Bedeutung und auch einen Sinn: Sie verhindern, dass die entstehende Form ausufert, sie gewährleisten, dass sich ein Inhalt in ihnen niederlegen kann und er sich nicht ständig sorgen muss, ob die Form ihn auch sicher trägt. Um es kurz zu machen: Saturn zieht Grenzen, er repräsentiert die übersubjektive Ordnung, an der sich das Subjektive reibt. Er ist der Traditionsverbundene, der Gesetzgebende, immer natürlich gefährdet zu erstarren. Der neue Geist, der rebellierende Impuls der Jungen, die sich hier an einem Inhalt versuchen, will die Grenzen einreißen. Kenne ich nur zu gut. Uranus und Saturn, der ewige Kreislauf in Ablösung des einen durch den anderen und Wandlung. Das Sich-Häuten der Schlange.
In diesem Jahr 2012 erhielt ich den Auftrag von einer zweisprachig aufgewachsenen Studentin, deren schriftliches Deutsch – darüber schreibe ich anderer Stelle mehr – nicht so ganz dem akademischen Anspruch entsprach. Einer meiner Mentoren pflegte zu sagen: „Wenn du mit den Walen schwimmen willst, musst du dir ansehen, was das Walhafte ist.“ Wer an die Universität geht und geisteswissenschaftlich arbeiten will, braucht einen großen Wortschatz und einen rhetorischen Werkzeugkoffer, der über das allgemeine Sprachwissen hinausgeht. Einige schreien jetzt: Ach, das ist ja elitär! Ich halte es eher mit der Metapher der Hebamme. Jeder weiß, wie Kinder auf die Welt kommen. Alle Frauen können Kinder ohne vorherigen Nachhilfeunterricht gebären. Doch nicht jede Frau kann Hebamme in Problemfällen sein. Lehrer sind „Gedanken- und Gestalthebammen“, sie können jenen, die es (noch) nicht alleine hinbekommen, ihre Worte und Inhalte gebären helfen. – So sehe ich auch meine Aufgabe, wenn ich Arbeiten betreue. Es ist nicht einfach nur ein „Lektorat“ (Lektoren bei Verlagen arbeiten als Ausführende der Vorgaben ihres Arbeitsgebers), was ich da betreibe, sondern der Versuch, in der mir vorliegenden Arbeit den Geist zu erkennen und diesen möglichst noch präziser und individueller zu feilen. Wie eine Figur, die bereits im Rohbau des Steins zu erkennen ist, an der aber etliche Stellen noch besser herausgearbeitet werden können. (Wer ich bin, das zu entscheiden? fragen sich jetzt sicher etliche.)
2012 die Erste. Die Arbeit der Studentin war ein solcher Rohbau. Sie hatte das Formale beachtet, eine Gliederung – also das Gerüst – war vorhanden, die Vorgaben des sog. style sheets waren eingehalten, ich hatte daran bis auf einige Anführungszeichen nicht viel zu tun. An ihren Sprachbildern aber bin ich nahezu verzweifelt. Was in Glossen und Satiren hoch erwünscht ist – nämlich mit Ausdrücken und Redensarten zu spielen, sie zu vertauschen und ad absurdum zu führen – hat in einer wissenschaftlichen Arbeit nur bedingt einen Platz. Um es kurz zu machen: die Texte waren voller unbeholfener Formulierungen, und auch grammatischerseits waren einige sinnzerstörende Abschnitte dabei. Da steckte ein „Kind“ im Marmor, das noch viel Hebammenarbeit – bzw. den Meisterschliff des Bildhauers – brauchte, um als unverwechselbares Geisteswerk der Kandidatin zu bestehen. Ich hatte ein ungutes Gefühl, und spielte mit dem Gedanken, den Auftrag nicht anzunehmen. Ich nahm ihn dann doch an. Am Ende – trotz meiner Feilarbeit – fiel die Kandidatin durch. Der Vorwurf des Plagiats stand im Raum. – Was hatte sie gemacht, und ich nicht bemerkt? Ich war davon ausgegangen, dass im Endstadium eines Studiums die Kunst des Zitierens beherrscht wird, und habe die als Zitat gekennzeichneten Stellen als korrekt (was im Übrigen nicht eigentlich meine Aufgabe war, sondern die des universitären Betreuers der Arbeit – und zwar vor der Einreichung beim Prüfungsamt) und die nicht als Zitat gekennzeichneten Stellen als ihre eigenwörtlichen Ausführungen angesehen. Dass sie offenbar nicht wenige Absätze mit copy&paste aus Originalen übernommen und noch nicht einmal paraphrasiert hatte, war mir schlicht durch die Finger gerutscht. Im Studium lernt man genau diesen korrekten Umgang mit den Texten anderer Urheber. Die Reife, die der Kandidat mit der Abschlussarbeit unter Beweis stellt, bezieht ein, dass er die Quelle fremder Gedanken und die Quelle eigener Gedanken immer klar vor Augen hat und die Fremdquelle angibt. (Ich habe mich später in meinem Verlag sehr oft mit den Feinheiten des Urheberschutzes herumgeschlagen.)
2012 die Zweite. Die zweite Arbeit aus diesem Jahr war ebenfalls eine ziemlich ambitionierte Baustelle. Der Inhalt war übersichtlich, ging in die Richtung von flugtechnischen Analysen, weniger philosophisch als sehr praktisch mit vielen Tabellen mit Zahlen, die zu interpretieren waren. Aber die Form, im Sinne der Erscheinung das Formale, war ein einziges Kraut und Rüben. Nur als Beispiel: Verschiedene Schriftarten und -größen, unterschiedliche Zeilenabstände, mal Flattersatz, mal Blocksatz, ganze Abschnitte in fett gedruckt, wieder andere kursiv – ohne dass ich dem eine Bestimmung und Bedeutung abringen konnte. Wenn ich auf ein solches Manuskript schaue, bin ich vor allem eins: FASSUNGSLOS. Eine weitere Aufgabe in der Bewältigung einer Reifeprüfung besteht darin, der Fülle an Möglichkeiten und gegebenen Einzelteilen einen Leitfaden zu geben. Jupiters Arbeit besteht darin, aus dem vielen Verschiedenen ein Gesamtbild zu fügen. Ein Zauberwort dabei ist: Vereinheitlichen. Jupiter – wenn er ohne Saturn unterwegs ist – vergisst das häufig. Individueller Stil oder Individualität zeigen sich vorrangig nicht in einem undurchdringlichen Wust aus unterschiedlichen Formen, die mehr oder weniger „gleichberechtigt“ nebeneinandergestellt sind. Ein Gesamtes entsteht durch den „senkrechten“ Faden, den ich durch waagerechte Linien schieße. Das ist ein wenig wie beim Weben und dem Webstuhl. Egal. Also meine Fassungslosigkeit spiegelte natürlich das Fehlen des Saturn (dieses Kandidaten) wider. Oder anders ausgedrückt: meiner war entsetzt über das Ausmaß der Unordnung. Natürlich kam dann meine „Intervention“ an dieser Arbeit überhaupt nicht gut an, und ich wurde auch heftig angegriffen. Weder Jupiter noch Uranus mögen einen Saturn. Vermutlich zähneknirschend wird sich der Prüfling an die Arbeit gesetzt und meine Vorschläge eingearbeitet haben. Zwei Jahre später – um es zu Ende zu bringen – fragte er nochmals um Hilfe an. Der ersten Arbeit (offenbar gut benotet), folgte eine zweite.
Da ist also zweierlei in diesen beiden Fällen enthalten: In der ersten Arbeit lief es neben einer sprachlichen Schwäche mit dem Original und der Aneignung des geistigen Ursprungs eines anderen schief (vermutlich gar nicht einmal mit Absicht, sondern einfach aus Nichtwissen und Nichtkönnen heraus), in der zweiten konnte der „Stoff“ nicht gebändigt werden, weil größere wie auch kleinere Ordnung nicht gewährleistet waren. Zwischen diesen beiden Extremen ist viel Raum für alle möglichen Ausprägungen und Kombinationen, die ich hier nicht weiter ausbreiten will. Sprung in die 20-er Jahre. Im letzten Jahr ebenfalls wieder eine Anfrage für eine akademische „Geburtshilfe“. In 10 Jahren ist etliches geschehen und etliches ist marodiert. Wie mir scheinen will auch der Umgang mit der Qualität von Form und Inhalt. Ich habe die Arbeit an der Arbeit nach einem ersten Daraufblick nicht übernommen. Was sich mir bot, war ein weitgehend unfertiger Entwurf. Es gibt Texte, ob Entwurf oder darüber hinaus, die unbearbeitbar sind – weil sie – egal, wo ich anfange – verfilzt und ungegliedert und unverstanden als zusammengeworfenes Geflecht im Raum stehen. Die sprachliche Heimat, das kommt noch erschwerend hinzu, ist an Universitäten, die etwas gelten wollen, nicht mehr die deutsche Sprache. Es werden Quellen, da die Seminare und Vorlesungen dann eben hauptsächlich auf Englisch gehalten werden, englischer Sprache verwendet, während die Abschlussarbeit auf Deutsch verfasst wird. Sofern nicht wörtlich zitiert wird, muss also übersetzt werden. Die Klippen, die sich da ins Meer hineinschieben, sind gefährlich. Ich konnte nur kapitulieren, denn im Sprachwust von Übersetzungen englischen Satzbaus ins Deutsche, nicht souverän beherrschtem Deutsch und einer dritten Sprache als Herkunftssprache im Hintergrund mitwirkend, hatten Inhalt und Form einen ähnlich aussichtslosen Kampf zu kämpfen wie Laokoon am Strand von Troja mit den beiden Schlangen, die seine Söhne erwürgten.
Wenn Gedanken und geschöpfte Gestalten sich nicht in einer Ordnung niederlassen können, sterben sie. Das Gedanken- und Gestaltensterben schreitet beängstigend voran. Vielleicht werden die jungen Leute den Verlust nicht bemerken, weil sie im äußeren Leben in Vorgänge eingespannt sind und keine Muße haben, sich den Wahnsinn der Sprachvermischungen, der Unbeheimatung und der Vereinfachung des Denkens vor Augen zu führen. Es ist auch nicht einfach nur der Verlust der Ordnung (in einer bestimmten „Verfassung“), dem wir hier bewohnen. Es ist die Übersteuerung der Anarchie bei gleichzeitiger Überregulierung. Es sind Uranus und Saturn aus dem Bewusstsein gefallen – mit Folgen.
Jene, die in diesen Jahren noch ihre Arbeiten auf Deutsch schreiben, geraten in schweres Fahrwasser. Ich bemitleide alle Anhänger des Deutschen, die herkommen im Glauben, sie fänden eine Ordnung, zu der sie eine Affinität spüren, mit der sie in Resonanz treten möchten. Denke ich an die deutsche Sprache, denke ich immer auch an Saturn. Mir kann er nicht verloren gehen, aber: die deutsche Sprache geht mir und uns verloren, und Deutsch in dem, was es zur Ordnung der Welt beisteuert, fehlt.