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FRAU DOKTOR SPRICHT SPRACHEN

Auf facebook folge ich so einigen Gruppen, die sich mit Deutsch und Deutsch als Fremdsprache befassen. Natürlich kann ich nicht alles lesen, was da an Kommentaren zusammenkommt. – Es sind sicher auch sehr differenzierte Beiträge dabei, doch bleibt so manches hinter dem zurück, was man außerdem noch wissen könnte. Das beunruhigt mich zunehmend.

Ich schicke das folgende Zitat einmal vorweg. Was sollte ich es paraphrasieren, wenn das Original viel authentischer ist.

„[…] wenn ich mal von der Deutschen Sprache von einer Saturn-Sprache spreche, das Bestimmende der Erscheinungswelt begrifflich zu ordnen und das Gestalthafte in die Bilder seiner Ordnung fügen, daran üben Sie Ihr Denken, nur daran. Es fällt mir schwer das zu sagen – aber das ist noch wichtiger wie die Astrologie. Wenn wir die Chance gehabt hätten, eine Ganztagesschule zu eröffnen, dann würde sich ein großer Teil der Übung widmen, an dem Gestalthaften der Erscheinungswelt das begriffliche Denken zu üben – die Sprache ist die Ordnung der Welt, des Angesprochenen, innerhalb dessen Sie denken, und denken können Sie dann nur noch so lange, solange außerhalb der Zeichen von Funktionen noch etwas anzusprechen ist.

Das heißt, die Sprache erfasst das Wirkliche als Gestalt des Wirkenden. Und da ist es, wie wir gesagt haben, das Bestimmende des Wirklichen, was über die Sprachordnung denkbar wird, so, wie über die Sprache des Uranus, des Wassermanns, der Altgriechen die Ursprünge zugänglich werden, das Schöpferische, oder im Sinne des Neptun die Grammatikalisierung des Unbewußten im Sinne seiner Offenlegung zu Gestalt – als Sprache der Lateiner.

Nun ist ja Sprache überhaupt Saturn oder Steinbock, das Sprachzentrum, das das Bestimmende des Wirklichen umreißt und erfasst als Bestimmung des Gefügtseins der Bilder des Wirklichen, wobei es in seiner Sprachgestalt die Stationen des Neptun und Uranus in sich trägt, bis sie zum Saturn werden.

Jede Sprache ist von sich aus eine Saturn-Sprache, und von dort her erst ihr Spezifikum gemäß der Stationen Neptun und Uranus, vielleicht ist das Deutsche die eines doppelten Saturn oder das Französische die des Mondes oder das Englische Merkur … das sind alles Gedankengänge, die wir verfolgen müssten über den Aufbau der Sprachen oder der Sprache an sich, gerade in einer Zeit, in der sie zerstört wird, auf die unauffälligste aller Weisen, damit die Freiheit des Denkens verhindert wird.“ Aus: Wolfgang Döbereiner – Die Weigerung des Christophorus (Seminare Bd. 4, S. 261)

Also, es wird um Sprache gehen. Bin auf einen DaF-Dozenten gestoßen, der irgendwo in Bangladesh am Goethe-Institut Deutsch unterrichtet und verschiedene Mnemotechniken erfunden bzw. geschaffen hat, wie Lerner sich den deutschen Wortschatz aneignen können. Seine Idee ist, sich der deutschen Sprache in dieser Weise zu nähern:

Memorize and enlarge your German vocabulary faster and more effectively!!

While learning a language, the most tedious part is how to memorize and enlarge your vocabulary. German is a language which – because of its sound structure – offers an unique scope of applying mnemonics which will help you memorize and enlarge your vocabulary remarkably fast and easily. Let us remain in touch, I would like to discuss it with you shortly.

Und dann schlägt er vor, dass man sich die Wörter nach folgenden Strukturen merken möge:

Wort der Struktur =e=ig, z.B. deftig …

Wort der Struktur =e=el, z.B. Brezel, Deckel …

Denkmal Grenzfall Kennzahl legal mental Pedal Regal Verfall Weltall zentral, … ordnet er in eine und dieselbe Gruppe

(A) „Bot Brot Tod Not“
Merkformel: „bearbeiten“ (b=Bot, rb/br=Brot, t=Tod, n=Not)
(B) „Pracht Pacht Pakt Nacht“ Merkformel: „Proppen“

 Wörter mit Vokalstruktur „=a=i=a=“ und „l“ , z.B. Kapital, maximal

Mir sträuben sich die Nackenhaare. Hier schreiben nun „Deutschlerner“ und Gruppenmitglieder ihre Vorschläge ein; was die Gruppe der Endungen auf -al angeht, hatte schließlich jemand noch NACHTIGALL vorgeschlagen – und der Meister der Techniken hatte auch das akzeptiert. Ich habe mir bereits zuvor angemaßt, zu einigen „Postings“ zu kommentieren. Hier mein Einschreiten:

Karin AF : Nachtigall – hat Doppel-L. Gehört nicht in diese Gruppe.
Antwort:  Danke schön. Streng genommen haben Sie Recht. Aber „L“ und „LL“ sind lautlich ähnlich, daher kann man das vielleicht akteptieren.
Karin AF: Das geht aber gänzlich gegen die Gestalt des Wortes und seine Herkunft. Mir geht das gegen den Strich: Nachtigall ist anderen Ursprungs als die aus dem Lateinischen stammenden Vertreter; radikal kommt von radix, z.B. Die Endsilbe -al ist ein Suffix der Adjektivbildung.

Das kann doch wohl nicht wahr sein! kapital, radikal und Nachtigall und Wasserfall lautlich ähnlich??? Ah ja.

Ich finde das zerstörerisch und – ehrlich – eine Vergewaltigung der deutschen Sprache.

Aber ich will nicht weiter polemisieren, sondern komme zu einem nächsten Punkt. Im November hatte ich kurzfristig die Gelegenheit, ein Modul „Grundkompetenzen der deutschen Sprache“ zu unterrichten. – Da saßen in einem virtuellen Raum 10 Teilnehmer, die dazu verdonnert waren, sich als Muttersprachler einige grundlegende „Regeln“ ihrer Sprache anzueignen. Ich hatte einiges zu tun.

Nehmen wir unser schönes „ß“. Noch schreiben wir es in Deutschland – in der Schweiz ist es bereits ersatzlos gestrichen. Es gibt dort keine Straße mehr, es gibt die Strasse, naja – Strass haben wir hier auch. Auch sind die Menschen nicht groß, sondern gross. Bei uns in Norddeutschland sind die Brötchen vielleicht kleiner, aber dafür gross, eigentlich sogar – ausgesprochenermaßen kross. Im Anlaut sprechen wir im Deutschen stimmhafte Konsonanten stimmlos, d.h. g wird k. Haben wir auch beim Verb gucken, das wir als kucken sprechen. – Es gibt nun einen Artikel das, ein Relativpronomen das und eine Konjunktion dass – sie alle werden gleich ausgesprochen. Hurra. Es lebe die deutsche Auslautverhärtung.

Auslautverhärtung heißt: es gibt im Deutschen stimmhafte und stimmlose Konsonanten. Erstere werden am Ende von Silben stimmlos gesprochen; das betrifft insbesondere d/b/g, aber auch das /s/ und da sehen wir eine „Unlogik“, oder? Für erstere Drei gibt eine ganz einfache Probe, wie man die Schreibung doch noch richtig, d.h. sprachgestaltmäßig, hinbekommt – und das ist die Verlängerungsprobe:

  • Hunt (geschrieben Hund), weil der Plural die Hunde lautet.
  • taup (geschrieben taub), weil er ein tauber Mann ist.
  • wenik (geschrieben wenig), weil es die wenigen Menschen sind, die das ableiten können. (bei -ig gibt es natürlich noch die regionale Variante der Aussprache -ich)

Es ist eine Gradwanderung (oder doch eine Gratwanderung??): Wie tief gehe ich als Lehrer-Vermittler? Bin ich extrem nur anwendungsorientiert und lasse auswendig lernen, oder gehe ich ganz in die Sprachgeschichte, bis ins Mittelhochdeutsche oder Althochdeutsche? Und wann „weihe“ ich die Leute darin ein, dass ihnen geläufige, selbstverständlich verwendete Wörter überhaupt gar nicht deutschen Ursprungs sind, sondern Fremd- und Lehnwörter, die in unterschiedlichen Wellen in unterschiedlichen Jahrhunderten in die deutsche Sprache einwanderten? – Übrigens ein wichtiger Punkt, den ganz viele Deutsch-als-Fremdsprache-Lehrer, die keine sich in Deutsch wirklich tief auskennenden Sprecher sind, nur schwerlich vermitteln können.

Rekurs: ich unterrichte eine noch andere (sehr heterogene) Gruppe von Deutschlernern (DaF): dort sind solche, die bereits mehrere Fremdsprachen beherrschen und die „Internationalismen“ erkennen, und solche mit z.B. türkischer oder arabischer Muttersprache ohne irgendwelche Englischkenntnisse, ohne Kenntnisse des lateinischen Alphabets, in deren Sprachen die „Internationalismen“ der ersten Welt nicht existieren.

Im Deutschen tummeln sich also französische Fremdwörter (gut assimiliert: Allee, Chaussee, Portemonnaie (darf jetzt Portmonee geschrieben werden) etc… leider ist Französisch nicht mehr „in“), aus dem Lateinischen stammende (Auto – von Automobil = selbstfahrend, Bus – von omnibus (lateinisch) = ‚allen‘ bzw. ‚für alle‘, Dativ Plural von omnis) und uns  aus dem Englischen Überschwemmende (ich wette, da kann jeder auf Anhieb mindestens drei oder vier Wörter aus seiner unmittelbaren Lebenswelt nennen). Dass sich Wörter aus dem Englisch wieder bei „uns“ ansiedeln, ist eigentlich eine Rückbewegung, denn das Englische ist keine Ursprungssprache, sondern eine Folgesprache. Wobei ich dem Altenglischen sehr Unrecht tue – es ist ungleich komplexer, aber auch differenzierter als das heutige Englisch.

Weiter im Text: Jeder Einzelne in meinen Kursen Anwesende (ob DaF oder Deutsch als Muttersprache) soll die Grundlagen der deutschen Rechtschreibung erwerben bzw. wiederholen. Mein Anspruch ist, dass ich jedem die Sprache in ihrer ihr eigenen Fügung nahebringen möchte. Darüber, was Sprache ist, habe ich anderer Stelle geschrieben. Gut, ich versuche, den Teilnehmern die deutsche Silbenstruktur ans Herz zu legen. Syllabieren ist das Zauberwort. Das nächste Zauberwort und das A und O ist Betonung. Im Deutschen wechselt das, mal wird auf der ersten, mal auf der zweiten oder dritten Silbe betont und die Betonung ist bei gleicher Schreibung auch schon mal bedeutungsunterscheidend:

  • durchLAUfen ist Anderes als DURCHlaufen, ÜBERsetzen Anderes als überSETZen.

Das Finnische z.B. betont IMMER auf der ersten Silbe.  Auch wenn das Wort noch so lang ist, liegt die Hauptbetonung stets auf der ersten Silbe (es heißt nicht, wie in deutschen Medien immer gehört HelsinKI, sonder HELsinki). Selbst Fremdwörter (HOtelli) werden immer auf der ersten Silbe betont. (Wer sich in der Schule mit französischer oder englischer Aussprache gequält hat, kann sich außerdem darüber freuen, dass im Finnischen jeder Buchstabe immer nur für einen ganz bestimmten Laut steht. Wunderbar!)

Doch zurück zu meinen deutschen Muttersprachlern, die die Struktur ihrer Sprache nicht durchschauen. Wie sollten sie auch, wenn sie sie rein instrumental verwenden! Aber demnächst sollen sie in einer Weiterbildung oder Umschulung etwas zu Papier bringen. Sie müssen Inhaltsangaben schreiben und wiedergeben, was gesagt wurde. Dazu müssen sie nicht nur Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden, sondern auch ihre im Kopf schwirrenden Gedanken bündeln und in eine Schriftsprache bringen. Schon allein Letzteres ist eine schwere Hürde. Haben Sie sich einmal beim Denken beobachtet? Denken Sie in ganzen Sätzen? Ja, wie überhaupt? Und wie verhält es sich in Alltagsgesprächen?

Typisch für jede von uns in einem Gespräch „gesprochene Sprache“ ist, dass wir unsere Gedanken sehr oft in Teilensätzen äußern. Wir beginnen einen Gedanken – unterbrechen uns, reparieren ihn oder überspringen einen logischen darauf folgenden Gedanken, und fahren mit einem anderen „Satzsegment“ fort. Das klingt dann oft „falsch“, ist es auch, aber eben nur nach den Normen der Schriftsprachlichkeit.

In Alltagsgesprächen sprechen bisweilen mehrere Sprecher gleichzeitig (es kommt zu Überlappungen), oder die Sprecherwechsel überschneiden sich. Man unterbricht einander und fällt sich ins Wort, oder aber Sprecher wiederholen das vom anderen Gesagte: sie spiegeln ihn. Das ist gar nicht so unüblich. Gespräche sind teilweise ziemlich redundant, d.h. voller „überflüssiger“ Wiederholungen und Füllwörtern. Diese haben allerdings den Zweck, dem Gesprächspartner zu signalisieren, dass man ihn verstanden hat. Das alles hat in einem geschriebenen Text nichts zu suchen.

Doch zunächst etwas Praxis. Eine Unterrichtseinheit ist bereits erwähntes „das, das, dass“-Phänomen, um nicht zu sagen -Problem, denn das mit dem Doppel-s ist inkonsequent. Ich lasse die Teilnehmer die s einfüllen. Wo setzen sie ein einfaches s und wo ein Doppel-s? Hier einige unkorrigierte Ergebnisse.

  • Es liegt am guten Essen, das wir dass Hotel empfehlen können.
  • Es ist toll, dass das Schwimmbad heute geöffnet ist.
  • Du weißt doch, dass wir heute nicht kommen können.
  • Das Buch, dass auf dem Tisch liegt, gehört mir.
  • Das Hotel ist so gut, das wir nächstes Jahr wiederkommen.
  • Das wir dass Buch nicht kaufen, liegt daran, das es uns zu teuer ist.

Dass ich in dieser Übung die Kommata gesetzt habe, ist defacto bereits ein Hinweis, führt die meisten allerdings in die Irre. Ich nehme an, einfach auch falsch erinnert. Gefragt, warum sie so entschieden haben, erhalte ich ziemlich schwammige Erklärungen und Regeln. Hier sind acht – und was meinen Sie? Zutreffend oder nicht zutreffend?

zutreffend nicht zutreffend
Wenn ich vor dem /das/ eine Pause mache, schreibe ich /das/mit einem s.
Naja, wenn das /das/ vor dem Nomen steht, mache ich keine Pause und ich schreibe /das/ mit einem s.
Wenn das /das/ nach dem Komma steht, schreibe ich /das/ immer mit Doppel-s.
Wenn es sich um den Artikel handelt, schreibe ich ein einfaches s.
Das /das/ mit einem s steht immer hinter dem Komma und hinter einem Nomen, wo es gehört.
Wenn ich /das/ durch „jenes oder dieses“ ersetzen kann, schreibe ich ein Doppel-s.
Das /das/ mit Doppel-s leitet immer einen Nebensatz ein.
Stimmt nicht: das /das/ mit einem s kann auch einen Nebensatz einleiten!

Die „Rechtschreibung“ – Orthographie – hat natürlich mit der Wort- und der Sprachgestalt zu tun. Auch unsere Kasus hängen mit der Gestalt unserer Sprache zusammen. Ein immer wieder ergiebiges Thema sind die Präpositionalergänzungen, und hier ganz besonders die mit den Wechselpräpositionen. Darunter muss man sich Folgendes vorstellen: Die „Verhältniswörter“ sind eine Wortgruppe, die davon berichtet, wie sich eine Sache zu einer anderen verhält – das kann eine Position oder eine Bewegung betreffen.

Akkusativ Dativ
Maria stimmt für die Gegenseite. Er geht lieber zum Zoo.
Ich fahre den Wagen gegen die Wand. Du bleibst mit deinem Buch zuhause.
Ohne ein Bahnticket darfst du nicht Zug fahren. Er ist nach dem Essen gleich abgefahren.

Richtig interessant wird es aber bei den Wechselpräpositionen. Da zeigt sich die ganze Virtuosität und Genauigkeit der deutschen Sprache.

Akkusativ = Bewegung Dativ = Position/Lage
Stell doch die Tasse auf den Tisch! Aber sie steht doch schon auf dem Tisch!
Setz die Kleine in den Hochstuhl! Aber sie sitzt doch schon im Hochstuhl.
Wenn du krank bist, musst du dich ins Bett legen. Ich liege doch schon im Bett.

Mit dieser grammatischen (es handelt sich jetzt nicht mehr nur um Rechtschreibung) Besonderheit kann ich im Deutschen eine sehr präzise Unterscheidung zwischen einem Noch-in-Bewegung und einem Schon-Stillestehen vornehmen. Dazu gehören natürlich die entsprechenden Verben (stehen, liegen, sitzen gegenüber stellen, legen, setzen), die sich unterschiedlich konjugieren und unterschiedliche Partizip-Formen erfordern. Die meisten Muttersprachler machen das „natürlich“ richtig, können allerdings nicht erklären, warum das so ist.

Akkusativ = Bewegung Dativ = Position/Lage
habe gestellt bin*/habe gestanden
habe gesetzt bin*/ habe gesessen
habe gelegt bin*/habe gelegen

Tja, warum überhaupt benutzen wir denn manche Verben im Perfekt (also, die zusammengesetzte Vergangenheitsform mit Hilfsverben) mit „haben“ und andere mit „sein“? – Haben Muttersprachler einmal darüber nachgedacht? * bedeutet: in Bayern, im Badischen, Schwäbischen, in der Pfalz und in Österreich ist es üblich, das Verb „sein“ zu verwenden. 

haben sein
Wir haben das Auto gekauft. Und dann sind wir nach Berlin gefahren.
Ihr habt euer Steak nicht gegessen. Aber ihr seid lange spazieren gegangen.
Wir haben lange geschlafen, … und sind viel zu spät aufgewacht.
Er hat einen Beruf gelernt, … aber ist nicht das geworden, was er werden wollte.

Die Verben der „Sein“-Spalte tragen die Bedeutung der Veränderung in sich, und die besteht entweder in einer Positions- oder einer Zustandsveränderung. Wer jetzt etwas weiter denkt und weitere Beispiele findet, wird mir gleich die unweigerlich aufkommende Fragen aller Fragen stellen.

Ich gehe inzwischen zu einem anderen Thema, das auch immer wieder für Aha-Erlebnisse in Kursen sorgt. Es geht um die wunderbare Welt der Vor- und Nachsilben. Das gehört nun weder in den Bereich der Rechtschreibung noch den der Grammatik, sondern in den der Wortbildung; auch hier zeigt sich die Gestalt der Sprache, die sich als Prinzip ihren Bestand durchwirkt. Schauen wir hier nach einer Ordnung. Zwei Aufgaben für meine Teilnehmer:

  1. Finden Sie so viele Verben wie möglich mit dieser Vorsilbe!

 

 

 

2. Finden Sie so viele Vorsilben zu diesem Verb wie möglich.

 

 

 

Ich bin ganz sicher, dass Sie großen Spaß hätten, wenn wir die unterschiedlichen Bedeutungen der Vorsilben durchgingen und uns vor Augen führten, welche Denkwelt dahinterliegt. Als Studentin bzw. für meine Abschlussarbeiten habe ich auch die finnische und die ungarische Sprache auf ihre „Denkwelt“ hin untersucht. Die Bildungsprinzipien anders als im Deutschen – und auf ihre Weise ebenso klar und ableitbar.

Als ich im letzten Jahr aufhörte, Deutschunterricht zu erteilen, war das vor allem aus einem Grund: Mir will scheinen, dass die „Lerner“ nicht mehr am Hintergründigen und an der Bestimmung der Sprache interessiert sind. „Sagen Sie mir nur einfach, wie es richtig heißt. Dann lerne ich das auswendig und gut ist.“ Was übrigens die deutschen Muttersprachler mich gleich zu Beginn des Grundkompetenzenkurses fragten: „Nach welcher Rechtschreibung gehen wir denn jetzt vor?“ – Das hatten sie irgendwo aufgeschnappt, und wollten einfach sichergehen, auch tatsächlich nach der „richtigen“ und geltenden Regelung zu schreiben, auch wenn diese – was sie nicht wussten – wiederum in den meisten Fällen völlig an der Gestalt der Wörter vorbei reformiert hat. Sie wollen ein Beispiel? Die „alte“ Rechtschreibung ist in diesem Fall die aus meiner Schulzeit. Musste nachschauen. Die „neue“ Rechtschreibung ist die von 1998.

alte Rechtschreibung Neuschreibung alte Rechtschreibung Neuschreibung
verfälschend – die Herkunft wird verschleiert mit Einschränkungen einigermaßen gerechtfertigt
einbleuen einbläuen muß muss, vergleiche: MUS
Quentchen Quäntchen Faß Fass
Greuel Gräuel Das im Deutschen wirksame Prinzip der Vokalquantitätsänderung ist vielleicht auch nicht unbedingt bekannt:  ein kurz gesprochener Vokal /u/ geht einer Doppelschreibung des folgenden Konsonanten voraus. Genauso bei: Kamm und kam: /a/ und /a:/ und bei Komma (/o/) und Koma (/o:/)

Ein anderer Fall ist z.B. die Auslautverhärtung des -s in Ergebnis. Das /i/ ist kurz, aber da ist nur ein /s/. Im Plural wiederum schreiben wir: Ergebnisse.

Tolpatsch Tollpatsch
belemmert belämmert
Stengel Stängel
numerieren nummerieren
rauh rau
Panther Panter Fuß bleibt also Fuß, weil wir ein /u:/ sprechen.
Graphik Grafik Straße bleibt, weil es sich um einen /a:/ -Laut handelt.

Mit der Reform hatte man gemeint, die Schreibung der Wörter für alle Schüler einfacher zu machen, und dabei ausgeblendet, dass es auch Aufgabe der Sprachlehrer in der Schule wäre, den Kindern den Ursprung der Laut-Buchstaben-Zuordnung nahezubringen. Das würde die Kinder nicht überfordern, sondern – da bin ich sicher – sie bei entsprechenden Kontexten diebisch freuen, weil sie eine Orientierung bekämen.

Das behauchte /h/ in den Wörtern Panther und Rhythmus stammt aus dem (Alt-)Griechischen, wo es als eine Art englisches /th/ gesprochen wurde. Natürlich kennt die griechische Sprache auch heute noch den Unterschied zwischen /θ/ (thita) und /δ/ (delta), beide besitzen im Deutschen keine Entsprechung. (Leider erschöpfen sich hier meine Griechisch-Kenntnisse.) Ich sehe gerade das erstaunte Gesicht einer Teilnehmerin vor mir, als sie die Ähnlichkeit zwischen Orthopädie und Orthographie entdeckte und sich eigenständig die Bedeutung des ihr bis dahin unbekannten zweiten Wortes erschließen konnte. Das /h/ in Wörtern wie Philosophie entspricht ebenfalls nicht einfach einem deutsch-gesprochenen /f/, sondern weist auf einen eigenen Laut hin, den wir im deutschen Phonem-Inventar nicht repräsentiert finden, der dem Wort in seinem Ursprung aber seine Gestalt gibt. Diese wird ihm jetzt genommen.

In der deutschen Sprache gibt es – wie zuvor gesehen – sehr viel mehr lateinische Lehnwörter. Die Herkunft der Wörter aufzuzeigen, stellt eine Verbundenheit mit der Welt her, die weit über das kleine persönliche Leben hinausgeht. Wer weiß denn heute noch, woher das Wort „Ambulanz“ stammt, oder „Angst“? Wir essen die „Rote Bete“ (auch mit Doppel-e), die auf eine lateinische Rübe zurückgeht. Die „Kaution“, die wir dem Vermieter zahlen, geht auf das Wort „Vorsicht“ zurück: cautus = vorsichtig. Der Begriff „Kultur“ – so in aller Munde – geht auf cultus zurück und bedeutet Pflege und Verehrung. usw. Die Sprache der Medizin ist durchsetzt mit lateinischen Wörtern. Wie sind sie in unsere Sprache gelangt? Ja, um das zu beantworten, gehen wir in die Zeiten, in denen die Römer bis nach Trier (an der Mosel) und auch bis nach Frankfurt und Friedberg gelangt waren und sich hier in Heerlagern niedergelassen hatten. 

Das /h/ des Wortes rauh (kein Lehnwort, sondern eins aus einer älteren deutschen Sprachschicht) ist ebenfalls in seiner Herkunft begründet:  

rauh Adj. ‘uneben, nicht glatt, rissig, derb, heiser, schroff, unwirtlich (von Klima, Landschaften)’, ahd. rūh ‘uneben, struppig, zottig, stachlig’ (9. Jh.), mhd. rūchrūherouch ‘haarig, struppig, zottig, herb, hart, streng, unwirsch, ungebildet’, mnd. rūchrūwe, mnl. ruuchrou, nl. ruig ‘rauh, haarig, zottig’, aengl. rūh, auch ‘unbereitet, ungezähmt’, engl. rough ‘rauh, grob’ (westgerm. *rūhwa-) vergleichen sich mit asächs. rūgi ‘rauhe Decke’, rūwi ‘rauhes Fell’, mhd. riuherūhe ‘Rauheit, Behaartheit, Pelzwerk’, aengl. rȳherūwarēowe ‘Wolldecke’, anord.  ‘Wolldecke’ und außergerm. mit aind. rūkṣáḥ ‘rauh, trocken, dürr, abgezehrt’, lit. raũkas ‘Runzel, Falte’, raũkti ‘(die Stirn) runzeln, zusammenziehen, furchen, falten’, rùkti ‘faltig, runzelig werden’.
Alle Formen führen auf ie. *reuk-*rūk- ‘rupfen’, eine Gutturalerweiterung der indogerm. Wurzel ie. *reu-*reu̯ə- ‘aufreißen, graben, aufwühlen, ausreißen, raffen’. 
Die oben genannten germ. Formen beziehen sich also ursprünglich auf Art und Aussehen ausgerupfter, struppiger Wollzotten.

Neben rauh besteht bis ins 19. Jh. hinein die Form rauch mit der speziellen Bedeutung ‘behaart, haarig, mit Haaren bewachsen’, entstanden aus der unflektierten Form mhd. rūch (neben flektiertem rūher; vgl. hoch neben hoher). Erhalten ist diese Adjektivform in den Zusammensetzungen Rauchwerk n. ‘veredelte Pelzware’ (1. Hälfte 16. Jh.; vgl. mhd. rūchwerc ‘Kürschnerhandwerk’) und Rauchware f. ‘Pelze, Pelzwerk’ (Anfang 17. Jh.; vgl. mnd. rūware ‘Felle, Pelzwerk’). rauhen Vb. ‘rauh machen, aufrauhen’ (18. Jh.); vgl. mhd. riuhen

Rauhbein n. ‘nach außen grob erscheinender, aber im Grunde guter Mensch’ (2. Hälfte 19. Jh.), rückgebildet aus rauhbeinig Adj. das als volksetymologische Wiedergabe von engl. rawboned ‘hager, (grob)knochig, klapperdürr’ gilt. Die Rauhbeinigen ist eine spöttische Bezeichnung der Studentensprache (etwa 1800 bis 1830) für die Berliner Bürgerpolizei, vgl. Fabricius in: ZfdWf. 3 (1902) 100Rauhreif m. bei windstillem Frostwetter aus unterkühltem Dunst oder Nebel reifartig sich niederschlagender weißer, kristalliner Belag (2. Hälfte 18. Jh.). Quelle: Das Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart

Das /h/ am Wort- bzw. Silbenende hat eine andere Geschichte als das Dehnungs-h innerhalb eines Wortes. Auch das ist immer wieder eine interessante Übung mit vielen Aha-Erlebnissen in den Kursen, und wieder hängt die richtige Schreibung mit dem wortgemäßen, genauen Syllabieren und der deutlichen Aussprache zusammen. Das stumme /h/ steht meistens vor l, m, n und r und der Vokal wird lang gesprochen. Wörter, die wir zwar ebenfalls mit einem langen Vokal sprechen, die aber mit den Lauten qu, sch, sp oder t beginnen, haben niemals ein stummes /h/. Um meine Teilnehmer geistig locker zu machen, gibt es dazu ein Rätsel, in dem sie die Wörter suchen und in Listen ordnen können. Sie können es ja auch einmal versuchen.

Lese- und Schreibförderung nannte sich das Modul, in dem ich bis Ende 2018 vorübergehend unterrichtete; es hätte mir auch wirklich Spaß gemacht, den Teilnehmern Lesen (sinnentnehmend, wie es so auf Didaktisch heißt) und Schreiben zu zeigen, und sie in die Lage zu versetzen, sich selbst zu kontrollieren und zum autonomen Lerner zu werden. Mir wurde gut gemeintes Material an die Hand gegeben, doch anfangen konnten wir – die Teilnehmer und auch ich – nicht viel damit. Die zur Verfügung stehende Zeit, Methode und Übungen verleiteten zu einem stumpfen Konsumieren und Abarbeiten. Auf diese Weise bleibt die Freude am Entdecken bald auf der Strecke. Was die zur Verfügung stehende Zeit anbelangt, so war es für einige Teilnehmer auch einfach nicht einsichtlich, warum sie in vier Wochen einen Parcours durch die Rechtschreibung oder das Verfassen von Texten zurücklegen sollten, der doch „offensichtlich“ nichts mit ihrer Lebenswelt zu tun hatte. Schade. Es fehlt einfach an der notwendigen Sensibilisierung, und so werden wir immer ärmer.  
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