oder
In der Falle der vernünftigen Toleranz
Nicht schimpfen, nicht gleich reflexhaft nach Luft schnappen – bitte – lassen Sie mich den Titel enthüllen. Vorab: Diesen Text hatte ich bereits im Mai 2017 gepostet, aber ich hole ihn nochmals nach oben, ohne ihn weiter zu bearbeiten.
Mit einigen Gedanken, die mir beim Lauschen der Rede von Max Frisch („Am Ende der Aufklärung steht das Goldene Kalb“) und der Lektüre eines Buches („Die verschleierte Gefahr“) kamen.
Hier die Rede vorweg, damit ich sie nicht zusammenfassen muss (was ich nur unzulänglich könnte). Es lohnt sich, sie von Anfang bis zum Ende zu hören.
Nachdem Sie sie nun gehört haben, möchten Sie vielleicht erst einmal eine Pause einlegen, oder sich eventuell dieses Zitat durchlesen. Es stammt von Karl Popper aus dem Jahr 1945.
Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die unbeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen. (Karl Popper, aus: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde)

Regeln vermögen die Angst auf ein erträgliches Maß herunterzuschrauben. – Welche Angst? – Die vor dem eigenen Leben.
Nur kurz zur Einstimmung, für den Fall, dass das Thema bei Ihnen abgesunken und damit nicht ganz bewusst ist. Poppers Gedanke: Zwei der Grundmerkmale einer offenen Gesellschaft sind die „Fähigkeit und die Bereitschaft zur Veränderung“ (beides setzt eine seitens des Staates gewährleistete „Meinungsfreiheit“ und die „Diskussionsfähigkeit“ mündiger Bürger voraus). In offenen Gesellschaften gibt es keine Dogmen, und die geltenden Regeln bilden sich im demokratischen Diskurs.
Geschlossene Gesellschaften hingegen erstarren in unverrückbaren Strukturen, die die Angst vor Veränderung, vor dem Fließenden, bannen helfen sollen. Beispiele für ein solchermaßen geschlossenes System führt Popper natürlich auch an: Faschismus und Kommunismus. „[D]ass sich diese Zivilisation noch immer nicht von ihrem Geburtstrauma erholt hat“, können wir aus heutiger Sicht wohl bestätigen. Der Übergang von den Stammesgesellschaften mit ihrem magischen Denken zu einer Gesellschaft, die die „kritischen Fähigkeiten“ des Menschen freisetzt, war – Stand 1945 – nicht vollendet, und der Prozess ist nach wie vor nicht abgeschlossen. Freiheit ist ein Wert, der immer wieder und mit jeder Generation neu errungen werden muss. Der Begriff „Stammesgesellschaften“, alternativ auch „Clangesellschaft“, wird im Laufe meines Gedankenganges noch in naheliegendem und in unserem heutigen – 2017 – Zusammenhang auftauchen, und ja, das Geburtstrauma – so weit sei vorweggenommen – scheint sich nachgerade verstärkt zu haben und berechenbare, aber nicht weniger unliebsame Entwicklungen zu bewirken.
Um noch weiter im Bild der Geburtsmetapher zu bleiben: Die Geburt, um die es hier geht, entspricht (der Zeit) der Aufklärung. Sie fing an mit den ersten Wehen etwa um die Mitte des 18. Jahrhunderts, die vergleichsweise leicht in mittelgroßen Zeitabständen erfolgten und noch unter der Bewusstseinsschwelle der großen Allgemeinheit lagen. Die Presswehen in der französischen Revolution waren dagegen eine heftige Austreibung, es blieben hinter dem Willen allerdings einige Entwicklungen hintenan. Geboren wurden bekannterweise Drillinge, deren einer – die Freiheit – ein hohes Gut unserer solchermaßen offenen Gesellschaft und dennoch eine schwere Aufgabe für den Einzelnen bedeuten. Die Nachgeburt warf man indes in der Traumatisierung unter der Geburt nicht weg, sondern erhob sie zum vierten Drilling, und nannte ihn „Vernunft“. In der postpartalen Zeit, durchaus auch evolutionär, wurden Anschauungen von vielen Denkern neu gedacht oder umgedacht, wobei auch Vieles vermischt und verklärt wurde. Darauf komme ich später.
Auf Karl Popper bezieht sich auch die Autorin Ramadani. Es ist genau diese Unbeschränktheit der Toleranz, in deren Falle zu rutschen auch sie die westliche, die deutsche Gesellschaft, sieht. Die ersten Seiten des Buches behandeln das Thema der minderen Wertigkeit der Frauen gegenüber den Männern im Islam. Dass dies aus dem Koran herausgelesen werden kann – und natürlich herausgelesen wird! – , belegt Ramadani mit mehreren Stellen aus Suren und Hadithen. Das Frauenbild – auch mit Biografischem aus ihrer Familiengeschichte veranschaulicht – lässt Düsteres erahnen. Nicht nur das. Es lässt viel mehr erkennen, dass die Auslegungen heute wie früher nicht willkürlich, sondern planmäßig und schönredend dem eigenen Vorteil und der Gottgefälligkeit den Mund reden.
Die Schlussfolgerung, die einige Seiten später gezogen wird, lautet: „Frauen müssen das ertragen.“ Nach diesem „Glaubenssatz“- schreibt Ramadani – habe ihre Mutter gelebt, und so lebten viele Töchter (in muslimischen Familien), die vom Wohl der Männer abhängig werden und Zitat ihrer Männer, Brüder, Onkel sind – und Opfer. – Ich werde weiter unten auch darauf wieder eingehen, möchte aber zunächst einige Fäden auslegen.
Mütter sind die größten Unterdrücker der Töchter (Zana Ramadani, S. 49)
In der FASZ vom 14. Mai 2017 schreibt Lydia Rosenfelder einen Beitrag, den sie mit „Nicht nur ein Stück Haut“ betitelt, Untertitel: Ärzte rekonstruieren immer häufiger das Jungfernhäutchen. Weil muslimische Familien ihre Töchter dazu zwingen. – Warum tun sie das? Ein intaktes Hymen, das erst in der Hochzeitsnacht zerreißt und dann blutet, ist der wichtigste Beweis dafür, dass eine Frau noch rein und die Ehre der Familie gewahrt ist. Seltsam – oder? Einerseits sind die Frauen wenig wert, dann aber die Trägerinnen der Familienehre in einem kleinen Stück Haut. Dabei ist noch gar nicht einmal zwangsläufig gegeben, dass eine Frau beim ersten Sex blutet; bei nicht wenigen passiert nichts, sagt ein im Text zitierter Arzt. Milieus, in denen diese Tradition bzw. Haltung immer noch gelebt wird, sind gegen biologische Tatsachen immun, und es sind die Mütter, die mit ihren Töchtern zu Ärzten kommen, wenn sie vermuten, dass dem Jungfernhäutchen etwas zugestoßen sein könnte, selbst wenn es die vierjährige Tochter ist, die von einem Jungen missbraucht wurde. Haut geht eindeutig vor Seele. Das ist vernünftig, denn es hilft das Gesicht wahren. Reinheit ist das oberste Gebot, dem alles andere unterzuordnen ist.

Leben bedeutet scheitern zu können und zu müssen, und wer das Scheitern ausschließt, lebt eben nicht.
Das mit der Reinheit kennen wir auch aus anderen Zusammenhängen. Und ja – wie im Großen so im Kleinen: Auch in unserer – ausgesprochen aufgeklärten – westlichen Zivilisation wollen Menschen sich die Finger oder ihren Ruf nicht schmutzig machen.
Keine Familie, in der nicht auch bei uns, egal ob nun protestantisch oder katholisch, Regeln gelten, die einzuhalten sind. Moral nennt man das. Unmoralisch sein, heißt zu sündigen. Ramadani verrät uns, dass ihre Mutter sie eine Hure nannte. Das im Kontext der muslimischen Familie. (Mir wurde dieser zweifelhafte Titel ebenfalls verliehen, werde an dieser Stelle nicht weiter darauf eingehen.) Doch was ist dieser Reinheits“fimmel“ anderes als der Ausschluss des Lebens?
Das Leben an sich beginnt bei Säugetieren, und solche sind wir, für Gebärende wie auch die Geborenen in Schmerzen und Blut. Ich sage das, ohne daraus eine religiöse Anschauung ableiten oder wiedergeben zu wollen, allein aus der Erfahrung des Mutterwerdens heraus. Über meine eigene Geburt weiß ich ja nichts mehr, und das eventuelle Trauma, das ich erlitten habe, ist mir so vertraut wie dem Fuchs Heidegger seine Fuchsfalle vertraut war. Leben bedeutet, dass wir Entscheidungen treffen, die wir nie und nimmer auch nur zur Hälfte „richtig“ treffen, und: mit den Konsequenzen dieser Entscheidungen müssen wir klar kommen.
Stichwort Mütter. Mütter waren irgendwann einmal Töchter und trugen die eine und andere Verletzung davon. Eltern begehen Fehler beim Erziehen ihrer Kinder. A) weil sie von sich auf die Kinder schließen, B) weil sie selber noch bedürftige Kinder sind und C) weil sie in den Kindern ihre eigene Verdrängtheit gutmachen wollen. – Die Liste ist länger. Zana Ramadani greift (ohne es zu wissen) auf, was ich – als ich etwa in ihrem Alter war – nicht zum ersten Mal überhaupt, aber für mich zum ersten Mal, formulierte. Verletzte Töchter werden zu verletzten, verletzenden, rachesuchenden Müttern. Die erziehen ihre Töchter nicht etwa zur Befreiung von der Unterdrückung, sondern halten sie darin, und sie erziehen die Söhne dazu, diese Unterdrückung auszuüben. Das zumindest habe ich damals nicht nur in iranischen, sondern auch deutschen Familien beobachten können. Doch ich lasse die Autorin sprechen, denn jetzt sind wir genau bei ihrem Thema, dem sie sich in ihrem Buch widmet. Dass sie nun wegen ihres Buches vor dem Hintergrund ihrer Vergangenheit als Netzbeschmutzerin (eine Frau schreibt schlecht über Frauen) und als Rassistin (eine im Westen Integrierte schreibt schlecht über Angehörige anderer Selbstverständnisse) bezeichnet wird, ist nicht ohne Ironie.
Aus einem Interview*:
Was haben Sie gegen Feministinnen? Sie waren doch einst Mitglied bei Femen.
Ich habe nur etwas gegen einen ganz bestimmten Schlag von Feministinnen. Und zwar gegen jene, die von Frauensolidarität reden, diese aber nicht leben. Die meinen, das einzige Übel sei der westliche weiße Mann, und diesen dürfe man ungehindert kritisieren, während sie Kritik an Angehörigen einer fremden Kultur, die genauso frauenverachtend ist, automatisch als rassistisch bezeichnen. Beim Feminismus geht es um Menschenrechte: Man darf alles und alle kritisieren, die Frauenrechte mit Füßen treten, auch Muslime. Wenn mich Feministinnen deswegen als Rassistin bezeichnen, dann hab ich ein Problem mit deren Verständnis von Feminismus.
Blick auf ihre Biographie. Zana Ramadani – gelernte Rechtsanwalts- und Notarfachangestellte und bekannt als Femen-Aktivistin – ist am 10. Januar 1984 in Skopje, Jugoslawien, geboren. Als Siebenjährige kam sie mit ihrer Familie nach Deutschland. In ihrer – nach eigenen Aussagen liberal-muslimischen – Familie erlebte sie Gewalt und Unterdrückung, die von ihrer konservativen Mutter, nicht vom eher gebildeten Vater, ausgingen. 2002 – als sie 18 wurde – floh sie in ein Frauenhaus. Zwischen 2012 und 2014 beteiligte sich Ramadani, inzwischen auch Mitglied der CDU, an verschiedenen Aktionen des Vereins Femen Germany e.V. Sie war dessen Mitbegründerin (in Deutschland als dem deutschen Zweig der ukrainischen Urzelle*) und Vorsitzende bis 2015.
Im Buch selbst geht es in einem der ersten Kapitel um die Kleiderordnung und Kopftuchfrage und darum, warum sich junge Mädchen überhaupt in diese Einschränkung (denn das ist es) einfügen. Zur Beantwortung muss man mehrere Schritte zurücktreten und sich ansehen, was eine Gemeinschaft ausmacht und wie sie sich abgrenzt. (Sie merken, ich verwende schon nicht mehr das Wort Gesellschaft, und das hat einen Grund, den ich weiter unten aufkläre.)
Die Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft im weitesten Sinne bietet Schutz, jede Gemeinschaft definiert sich über Werte, die die Mitglieder verbinden. Zur Gewährleistung dieser Gemeinsamkeit gibt es alsdann Regeln, die ausgeübt und eingehalten werden. Will man zur Gemeinschaft gehören, muss man diese Regeln kennen und befolgen. Die Gemeinschaft als „System“ übt mithin einen Druck auf die einzelnen Mitglieder aus, die sich wiederum – sobald die Zahl auf ein gewisses Maß steigt, in sozialer Kontrolle gegenseitig der Regeleinhaltung vergewissern. „Die Forderung nach angemessener Kleidung ist das erste Mittel der Disziplinierung von Frauen in einer religiösen Community.“ (Ramadani, S. 64). – Der einsetzende Prozess der Etablierung ist selbstverstärkend. Es tritt Gewöhnung ein, die darin endet, dass die Unterdrückung als freigewählte Entscheidung dargestellt wird.
Auch ich habe Begründungen von Frauen das Kopftuch und die Verschleierung betreffend gehört, die mich staunend ob der Aufrichtigkeit, mit der sie erzählt wurden, zurückließen. Eine Iranerin erzählte mir im Vertrauen, dass „die Frauen sich verschleiern, weil sie die Männer vor sich selbst schützen müssten. Wenn die Frauen sich nicht bedeckten, würde das die Männer provozieren, und sie hätten sich dann eben – Schande über die Frau – nicht mehr im Griff.“ Die Freiheit, sich kleiden zu dürfen, wie es in unserer westlich geprägten Wertegemeinschaft üblich ist, hat Konsequenzen, die wir Frauen tragen und aushalten müssen und können. Das haben wir gelernt, und „unsere“ Männer auch. Bei leichter Bekleidung, bei provokantem Auftreten gibt es eben etwas zum Gucken. Wer sieht nicht gerne schöne Körper? „Augenweiden“ nannte man das mal – und es sind nicht nur die äußeren Schönheiten, die dem Auge und dem Gemüt guttun. … (Meinen Kindern habe ich früher, wenn ihre Augen vor den Süßigkeitenregalen zu leuchten begannen, gesagt: „Schauen ist mit den Augen, nicht mit den Fingern.“ Habe gehört, dass nicht nur ich das so formulierte.) Die Iranerin hatte nicht ganz unrecht, aus ihrer Perspektive spricht die ganze Erziehungsprägung einer uns weitgehend unbekannten Mentalität, auf deren Boden eine bestimmte Religionsform aufging. Der Dreh- und Angelpunkt – an dieser Stelle zusammengefasst – ist das Bild, das Kinder von sich als Töchter und als Söhne vermittelt bekommen und als Erstsozialisation mitnehmen, wo immer sie hingehen.
Kopftuch, Burka, Hidjab – das sind allerdings keine Petitessen. Trotzdem muss die steigende Zahl der verhüllten Frauen (Zahlen und Quellen im Buch) nicht zwangsläufig ein Ausdruck steigender Religiösität sein, kann aber wohl als Zeichen von Abgrenzung oder Auflehnung verstanden werden (S. 79). Wird hier wie so oft in der Geschichte ein Kleidungsstück aus Trotz instrumentalisiert, um Unzufriedenheit auszudrücken? Wenn das so ist, dann müssen wir schauen, womit die Menschen so vehement unzufrieden sind. Ich vermute, dass es zwar auch mit Sexualität, der Geschlechterfrage und der Gleichberechtigung zu tun hat – aber das ist mir zuwenig! Spurensuche bei Ramadani und Kontexterweiterung.
Die sich christlich-bekennenden oder auch nicht-bekennenden Frauen haben Frauen des muslimischen Glaubens eine etwa 100-jährige Entwicklung voraus: die des Feminismus und der Emanzipationsbewegung. Und jetzt gerät hier etwas ins Ungleichgewicht, schon fast in ein Paradox. Es gibt muslimische Feministinnen, keine Frage, und es gibt solche, die sich zum Kopftuch als Ausdruck ihrer (Wahl von) Freiheit bekennen. Ramadani nennt sie die „Kopftuchfeministinnen“ (S. 87 ff), und bescheinigt ihnen, dass „sie ihre Rolle als Opfer der westlichen Gesellschaft, die sich angeblich ihnen gegenüber wegen ihrer Religion rassistisch verhält, sie diskriminiert und am Arbeitsplatz benachteiligt“ (103) pflegen. Das sei ihr feministischer Ansatz… Ihnen stehen die anderen Feministinnen gegenüber, jene, die das seit 100 Jahren machen, jene, die sich für die Rechte der Frauen, für Gleichheit und Freiheit eingesetzt haben – und die Ramadani „weiße Genderfeministinnen“ nennt. Mit ihnen geht sie scharf ins Gericht: sie verschlössen die Augen vor der Unterdrückung islamischer Frauen, duldeten Übertritte wie Übergriffe und trügen gerade damit nicht zu Emanzipation, sondern zu einer neuen Form von Anti-Feminismus bei (S. 107).
Ohne Bildung keine Pluralität
Ramadani hat es benannt, und auch von vielen anderen Seiten war es vor ihr zu hören: je bildungsferner eine Gemeinschaft, desto leichter lassen ihre Mitglieder sich gleichschalten. Die Unterwerfung von Andersdenkenden lief noch vor Jahrhunderten sehr viel brachialer als heute ab, aber die sich unter ein stärkeres übernehmendes System Unterwerfenden übernahmen schon damals die Ideologie der – in vielen Fällen –vitaleren neuen Herren und vertraten sie noch rigoroser als diese selbst. Heute läuft das alles in einer nachgerade sanften, dafür umso subversiveren Weise ab: die Unterwerfung kommt von innen – die Gleichschaltung ruft die soziale Kontrolle auf den Plan. Jeder ist des anderen Sittenwächter.
Eine offene Gesellschaft zeichnet sich durch noch ein weiteres Element aus: sie ist heterogen. Die Unterschiedlichkeit der Mitglieder einer Gemeinschaft, die Vielfalt ihrer Anschauungen und die Toleranz der anderen Anschauung gegenüber waren lange Zeit das angestrebte Ziel der Lebensweise, die wir wollten. Inzwischen zeichnet sich anderes ab.
„… Obwohl man eigentlich weiß, dass so ein System wie Schule vom ersten Tag an Differenz erzeugt, wird nichts anderes versucht, als gleichzumachen, von Anfang an. Und wer aus der Rolle fällt, ist entweder verhaltensgestört oder schwer erziehbar. Aber dass das vielleicht auch einfach jemand sein könnte, der unterfordert ist und der seine eigene Art hat zu denken, mit dem man nur entsprechend umgehen müsste, auf diese Idee kommen die Wenigsten. Zweifelsohne haben Lehrer heute eine viel schwierigere Aufgabe, weil die Klassen so ungeheuer heterogen sind. Aber der Ansatz, erst mal gleichzumachen, das finde ich schon fatal. Letzten Endes kommen Abiturienten schon mit einer Gesinnung an die Universität, die es ihnen schwer macht, zum Beispiel auf exzentrische oder außerhalb des Mainstreams liegende Forschungsthemen zu kommen…“ (Heike Schmoll im Deutschland-Radio)***
Wenn die Geburtswehen und die Geburt der Aufklärung nicht umsonst gewesen sein sollen und wir Frauen wie Männer aus der Gefahrenzone geschlossener Systeme herausbringen wollen, dürfen wir die Bildung nicht vergessen. Wenn an Schulen die Methodenfeindlichkeit wie bisher fortbetrieben wird (was bedeutet: der Unterricht ist ineffizient und erreicht die Kinder und jungen Menschen nicht), gleichzeitig die Hürden des Lernstoffs immer niedriger gesetzt werden (man traut den Menschen nichts mehr zu, was einer unwürdigen und menschenverachtenden Einstellung entspringt), die Wissenschaftsfeindlichkeit weiter steigt – wird das die Frauen weiter in den Schleier hinein treiben und die jungen Männer, die in einer von Frauen bzw. Müttern quotendominierten Gemeinschaft geschwächt und kastriert sind, in die Arme fragwürdiger Verbände.
Vielfalt ist nur noch plakativ erwünscht, aber sie ist der Schlüssel zum Leben. Die Menschen von heute scheinen geradezu Angst vor dem Differenzieren und der Pluralität zu haben. Derzeit sieht es so aus, als sollten wir zwar nicht in eine Gesellschaftsform des Kommunismus, auch nicht in die eines Faschismus, eintreten, wohl aber in eine, die unter einer rigiden Anschauung und deren Ausübung durch explizit einzuhaltende Regelungen einen beruhigten Sozialismus der Gleichen darstellt.
„Nein, man darf nicht schlau sein, vor allem, wenn sozusagen die Eltern eben keine Akademiker sind und keine Universitätsprofessoren, sondern einfach ganz einfache Leute vom Dorf. Die Mutter hat einfach Angst, dass sie aufgrund dieses hochbegabten Sohnes aus der Dorfgemeinschaft hinauskatapultiert wird. Und das ist genau dieser Druck – also im Grunde ist Gemeinschaft an die Stelle, und zwar eine erzwungene Gemeinschaft und eigentlich ein im Grunde voller terroristischem Druck belasteter Gemeinschaftsbegriff an die Stelle von Gesellschaft getreten.“ (Schmoll)
Man darf nicht schlau sein (die Wortwahl ist ungeeignet, denn schlau bedeutet nicht das, was Frau Schmoll dann argumentieren möchte) heißt es – und weiter: es besteht Druck. Die Ablehnung von höherer Bildung hat neue Gesichter angenommen und der Neid jener, die mäßig erfolgreich ihre Schulen absolviert haben, auf die, die es besser gemacht haben, führt zu unguten Prozessen. Hinter dem Neid und dem „Aufstand der Vielen“ gegen die Eliten steht ganz simpel und menschlich ein Minderwertigkeitskomplex. Wo kommt der aber her?
ISBN 9783746704425, epubli GmbH
Quellen und Fußnoten
*http://www.tagesanzeiger.ch/sonntagszeitung/dny/muslimische-muetter-erziehen-ihre-soehne-zu-versagern/story/16550895
**Femen (ukrainisch Фемен, in Eigenschreibweise FEMEN) ist eine am 11. April 2008 in der ukrainischen Hauptstadt Kiew gegründete Gruppe, die sich als feministisch definiert und durch provokante Aktionen internationale Beachtung gewonnen hat. Gründerin und Leiterin der Gruppe ist Hanna Huzol, lange gemeinsam mit Wiktor Swjatskyj. Zu den prominentesten Aktivistinnen gehören Inna Schewtschenko, Alexandra Schewtschenko und Oksana Schatschko. Die Organisation tritt für Frauenrechte ein. Die Aktivistinnen von Femen sind vor allem junge Frauen, oft Studentinnen. Nach der Gründung 2008 war Femen zunächst nur in der Ukraine aktiv und wandte sich mit der Parole „Die Ukraine ist kein Bordell“ (Україна — не бордель!) gegen Sextourismus und Zuhälterei. Gleichzeitig wurde die Bestrafung von Männern gefordert, die Prostitution in Anspruch nehmen. Femen erlangte rasch internationale Beachtung.
*** http://www.deutschlandfunk.de/ueber-eliten-2-5-verzagte-geister.1184.de.html?dram:article_id=385156