Hatten wir jemals Kultur?
Karin Afshar
Format: A 6,
192 Seiten
Februar 2018
15,00 €
Kann bei mir bestellt werden.
„[…] Kultur ist der gemeinschaftliche Ausdruck eines Volksganzen einem Jenseits gegenüber. […] Zivilisation ist wiederum ganz was anderes. Das ist, wenn in einer Schule die Toiletten sauber sind.“ (W. Döbereiner, Sem. 20, S. 295)
Die „Kultur des Todes“ ist der Teil der Kultur, der sich „Zivilisation“ nennt.
Es ist die „Zivilisation“, die den Tod einer Kultur heraufbeschwört. Sie ist der Teil der Kultur, der den Tod der Kultur will, der nihilistisch, aber auch verführerisch „modern“ ist.
Neulich sprachen wir wieder einmal über das Buch von Samuel Huntington „The Clash of civilizations?“. Das Buch ist schon älteren Datums, genau gesagt von 1997. Ins Deutsche übersetzt lautet der Titel „Kampf der Kulturen“.
In 1993 the esteemed journal FOREIGN AFFAIRS published an article entitled „The Clash of Civilizations?“ by Samuel P. Huntington. According to the journal’s editors it went on to generate more discussion than anything they had published since the Second World War.
In the article, Huntington posed the question whether conflicts between civilizations would dominate the future of world politics. In the book, he gives the answer, showing not only how clashes between civilizations are the greatest threat to world peace but also how an international order based on civilizations is the best safeguard against war. Since September 11, his thesis has seemed even more prescient and acute. THE CLASH OF CIVILIZATIONS AND THE REMAKING OF WORLD ORDER is now recognised as a classic study of international relations in an increasingly uncertain world. (Beschreibung bei amazon – englisch)Der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington stellt in seinem Buch die Frage nach den weltpolitischen Entwicklungen im 21. Jahrhundert. Statt eines harmonischen Zusammenwachsens in einer zunehmend vernetzten Welt sieht er neue Konflikte globalen Ausmaßes entstehen: Konflikte zwischen den Kulturen. Die Weltpolitik des 21. Jahrhunderts wird nicht mehr von Auseinandersetzungen ideologischer oder wirtschaftlicher Natur bestimmt sein, so Huntingtons These, sondern vom Konflikt zwischen Völkern und Volksgruppen unterschiedlicher kultureller Zugehörigkeit. Der Faktor Kultur wird folglich in der internationalen Politik massiv an Bedeutung gewinnen. Mit „Clash of Civilisations“ hat Huntington eine neue Formel für die künftige Weltordnung formuliert. (Beschreibung amazon deutsch)
Die Wörter Kultur und Zivilisation werden abhängig von geschichtlichen Entwicklungen und vor dem Hintergrund verschiedener Nationen selbst von den sie verwendenden Wissenschaftlern alles andere als einheitlich verstanden. Viele verwenden sie in heutiger Zeit unbedacht und bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit, so dass da vielleicht zwecks Verminderung von Missverständnissen etwas Klärungsbedarf ansteht.
In einer Zeit von Völkerwanderung, die wir gerade wieder erleben, und der Suche nach Lösungen, stellt sich vielleicht nicht nur mir nun die Frage, wann wir von Zivilisationen und Kulturen, wann von Ethnien, wann von Gesellschaften sprechen dürfen. Der Wunsch geht so leicht von den Lippen: Wir brauchen eine interkulturelle Kommunikation. Eine Kommunikation zwischen den Kulturen… Eine andere Frage lautet: Zerstört die Zivilisation die Kultur?
Dazu habe ich mir Gedanken gemacht – und bin dabei auf Wege gestoßen, die ich in meinem ersten eigenen Entwurf (aus linguistischer und astrologischer Sicht) zur Klärung nicht einbezogen hatte. Deshalb Ausschnitte aus diesen Wegen erst und dann mein eigener Entwurf ganz weit unten.
Allerdings bin ich weder Kultur-, noch Sozialwissenschaftlerin, was vielleicht in diesem Fall weniger schadet als nützt, denn somit bin ich auch nicht durch ein entsprechend eingenommenes Wissen festgelegt oder besetzt. Festgelegt bin ich allerdings – wie jeder der Leser es für sich selbst nachvollziehen mag – in anderer Weise durch den Blick, den ich in die Welt werfe. „Was wir in der Welt“ sehen – hat mit der Welt zu tun (das hoffe ich doch stark, dass dort draußen etwas ist, über das wir uns verständigen können) und mit unseren Anlagen am AC (wie – vor dem Hintergrund des Innenraums) und dem DC (was – der Vordergrund des Außenraums) zu tun. Ich werde einen astrologischen Blick auf die Begriffe werfen, aber nicht nur auf sie, sondern auch auf die Menschen, deren Theorien und Gedanken ich vor ihrem je eigenen Lebenshintergrund vorstelle. Machen wir zunächst die altbewährte Bestandsaufnahme der offiziellen Welt. – Vorangestellt sei die englische Definition zum Begriff „culture“ aus wikipedia… In Teil II werde ich darauf wieder eingehen.
Culture is a word for people’s ‚way of life‘, meaning the way groups do things. Different groups of people may have different cultures. A culture is passed on to the next generation by learning, whereas genetics are passed on by heredity. Culture is seen in people’s writing, religion, music, clothes, cooking, and in what they do.
The concept of culture is very complicated, and the word has many meanings. The word ‚culture‘ is most commonly used in three ways.
- Excellence of taste in the fine arts and humanities, also known as high culture.
- An integrated pattern of human knowledge, belief, and behavior.
- The outlook, attitudes, values, moral goals, and customs shared by a society.
Most broadly, ‚culture‘ includes all human phenomena which are not purely results of human genetics. The discipline which investigates cultures is called anthropology, though many other disciplines play a part.
Norbert ELIAS – Soziogenese zweier Begriffe
„Wir sind in hohem Grade durch Kunst und Wissenschaft kultiviert. Wir sind zivilisiert bis zum Überlästigen zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber uns für schon moralisiert zu halten, daran fehlt noch sehr viel.“ (Norbert ELIAS, zitiert in Dominic Vaas et al.)
ELIAS war Soziologe, deutsch-jüdischer Herkunft und lebte seit seiner Emigration aus Deutschland 1933 (1924 war er aus Breslau nach Heidelberg, 1930 nach Frankfurt gekommen) hauptsächlich in England und den Niederlanden.
Sein Werk ist lange Zeit recht unbeachtet, doch seit den 1970er Jahren wird er breit rezipiert. Mit seinem Namen sind die Begriffe „Figuration“ sowie „Prozess- und Figurationssoziologie“ verbunden. Beide leiten eine methodologische Neuprägung der Soziologie in Anlehnung an Karl Mannheim ein. Über den Prozeß der Zivilisation stammt aus dem Jahre 1939 (Neuauflage: 1969/1976) und zählt zu den bedeutendsten Werken der Soziologie im 20. Jahrhundert. ELIAS bricht darin mit der langen Denktradition, in der die Gesellschaft dem „als selbständig gedachten Individuum“ gegenübergestellt wird. Seine Gedanken über das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum, die sich in nahezu allen seinen Werken finden, führen zu einer Neudefinition von Begriffen wie „Identität“ und „Selbstwert“. Menschen sieht ELIAS als Akteure mit einem gewissen Freiheitsspielraum im Rahmen der Figurationen, die sie in sozialen Prozessen miteinander bilden.
Der französische wie der englische Begriff Zivilisation bezieht sich auf politische oder wirtschaftliche, auf religiöse oder technische, auf moralische oder gesellschaftliche Fakten. Zum Ausdruck der deutschen Haltung tauge allerdings dieser Zivilisationsbegriff nicht. ELIAS hält – was Deutschland angeht – den Begriff Kultur und dessen Bedeutungsgehalt für geeigneter. Spezifisch deutscher Sinn von Kultur nämlich beziehe sich wesentlich auf geistige, künstlerische, religiöse Fakten, vor allem aber auf Produkte des Menschen, den Wert und den Charakter dieser Produkte, als ein Resultat von Arbeit und den Stolz auf die eigene Leistung.
Kultur kommt im Eigenschaftswort kulturell am besten zum Ausdruck. Kultiviert hingegen steht dem französischen Zivilisationsbegriff nahe und drückt die „höchste Form des Zivilisiertseins“ aus.
Das deutsche Kultur bezieht ELIAS also auf aus individueller Leistung resultierende Produkte [über Werke lesen wir noch bei ARENDT] des Menschen: Kunstmalerei, Literatur, Musik; aber auch Religion oder Philosophie. In ihnen liegt die Eigenart eines Volkes. Damit grenzt der deutsche Begriff Kultur z.B. das deutsche Volk von anderen Nationen ab, weil er die nationalen Unterschiede und die Eigenart des deutschen Volkes besonders hervorhebt. Doch woher stammt das?
Den Ursprung für die Vornahme dieser begrifflichen Unterscheidung sieht ELIAS im Mangel an nationaler Identität, den das deutsche Volk im Vergleich zu anderen westlichen Völkern aufweise, weil es erst relativ spät zu einer politischen Festigung oder Einigung gekommen sei. Es sei das deutsche Volk, das sich öfter als andere Nationen fragen müsse: „Was ist eigentlich unsere Eigenart, was ist typisch für uns?“
Deutsches Bürgertum und der Adel – wir befinden uns im ausgehenden 18. Jahrhundert/Anfang des 19. Jahrhunderts – greifen einander heftig an; die Adeligen an ihren Höfen sprechen untereinander Französisch, und setzen sich damit absichtlich von der mittelständischen Intelligenzschicht (bestehend aus bürgerlichen „Fürstendienern“ und Beamten), die Deutsch spricht, ab.
Dieser gesellschaftlich-sprachliche Riss – die Betonung des Unterschieds mit einer Trennung in priviligiert/bürgerlich – kann als Ursache für den Auseinanderfall der Wahrnehmung von Zivilisation und Kultur angenommen werden. Die bürgerlichen negativen und positiven Konnotationen hier:
Zivilisation | Kultur |
|
|
War nun jemand ein feiner Pinkel, dann war er vielleicht zivilisiert, aber eine Kultur hatte er noch lange nicht. Ein Versprechen (das Zitat von Lichtenberg kann man bei ELIAS nachlesen) wird gehalten, eine promesse mitnichten, und auch eine Erfindung ist anderes als eine decouverte – ersteres ist neu, letzteres etwas Altes mit neuem Namen. Sprache ist das Element des Krebses, wenn es um den Ausdruck der Empfindung (Inhalt/Gestalt, die dem Leben zugrundeliegt) geht, und Element des Steinbock, wenn es um darum geht, das Wirkliche zu umfassen oder zu strukturieren (ihm ein Gerüst und ein Maß im Sinne einer Umgrenzung zu geben). Im Text von Theodor Fontane in Ein Sommer in London (1852) wird da ein Unterschied sichtbar:
England und Deutschland verhalten sich zueinander wie Form und Inhalt, wie Schein und Sein. Im Gegensatz, zu den Dingen, die – von der Tuhularbrücke an bis nieder zur winzigsten Stecknadel – in keinem Lande der Welt eine ähnliche, auf den Kern gerichtete Gediegenheit aufweisen wie in England, entscheidet unter den Menschen die Form, die alleräußerlichste Verpackung. Du brauchst kein Gentleman zu sein, du mußt nur die Mittel haben, als solcher zu erscheinen und du bist es. Du brauchst nicht Recht zu haben; du mußt nur innerhalb der Formen des Rechtes dich befinden und du hast Recht. Du brauchst kein Gelehrter zu sein, du mußt nur Lust und Talent haben durch Mäzenatentum oder Mitgliedschaft wissenschaftlicher Vereine, durch Aufstöberung und Edierung alter, längstvergessener Schwarten, vielleicht auch durch Benutzung vertraulicher Mitteilungen die Rolle des Gelehrten zu spielen und du bist ein Gelehrter. Überall Schein. Nirgends ist dem Scharlatan-Unwesen so Tür und Tor geöffnet, wie auf dieser britischen Insel, nirgends verfährt man kritikloser, und nirgends ist man geneigter, dem bloßen Glanz und Schimmer eines Namens sich blindlings zu überliefern. (weiterlesen)
Der deutsche Kulturbegriff kehrt somit die nationalen Unterschiede und Eigenarten von Gruppen hervor, und es waren die sozialen Gegensätze in Deutschland, die zu einer unterschiedlichen Verwendung der beiden Begriffe Zivilisation und Kultur führte. Wie ich erlese, ist es dieser „deutsche“ Kulturbegriff, der schließlich in die Ethnologie und die Anthropologie eingegangen ist, und in den Kulturwissenschaften verwendet wird (Helmut Hofbauer, 2004).
Die Frage nach dem „Was ist eigentlich typisch deutsch?“ zeigt, wie sehr hierzulande nach einer (kulturellen) Identität gesucht wird. Sie ist übrigens nach wie vor nicht beantwortet. Aus diesem Grund ist die 2016 im Zuge der Flüchtlingszuzüge neu gestellte Frage Was ist Deutsch? aktueller denn je und deutet auf die ungelöste geschichtlich-historische Dimension hin, die dazu führt, dass die fragile „deutsche Identität“ labil und schreckhaft ist, auch wenn tagespolitische Strömungen uns anderes – wie auch vor 100, 200 oder 300 Jahren – weismachen wollen. Die untenstehende Meldung wird im Versuch, den Konstrukten näher zu kommen, noch eine Rolle spielen.
Nicht der Geburtsort oder die Vorfahren [Hervorhebung von mir] entscheiden, ob sich Menschen zur deutschen Gesellschaft zugehörig fühlen, sondern die Sprache und ein fester Arbeitsplatz [Hervorhebung von mir; zur Arbeit müssen wir unbedingt Hannah ARENDT befragen]. Das ist ein zentrales Ergebnis zweier Studien zum Thema „Was ist deutsch im Jahr 2016“, das am 28. Juni 2016 von Aydan Özoguz (SPD), der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung, vorgestellt wurde. Beide Erhebungen belegen eine Abkehr von dem früheren Verständnis des Deutschseins, wonach Abstammung und Herkunft entscheidend sind. (Deutschsein ist erlernbar, zeit-online)
Sprache, ja – einverstanden. Deutsch ist, wer Deutsch spricht? Die Sprache von Menschen zu sprechen, mit denen man in einer größeren Gemeinschaft lebt oder leben möchte, ist gewissermaßen eine Voraussetzung für die Zugehörigkeit; doch die Sache mit dem Arbeitsplatz macht aus den Menschen reine Funktionäre, Ausübende einer Form des Gemeinschaftlichen, und Mehrer bzw. Sicherer von Besitz. Weshalb ja nun auch nicht mehr von deutscher Kultur die Rede sein darf. Dazu weiter unten mehr. Werfen wir zunächst einen näheren Blick auf den Begriff der Zivilisation.
Eine allgemeine Funktion der Zivilisation sei z.B. das Nationalbewusstsein (ELIAS). Der Begriff bringe das Selbstbewusstsein des Abendlandes zum Ausdruck, denn mit ihm versuche die abendländische Gesellschaft [Was eine Gesellschaft ist, werde ich weiter unten erläutern] zu charakterisieren, was ihre Eigenart ausmache, worauf sie stolz sei: Stand ihrer Technik, Art ihrer Manieren, Entwicklung ihrer wissenschaftlichen Erkenntnis oder ihrer Weltanschauung.
Das Wort Zivilisation könnte die Annahme einer abgeschlossenen Handlung, eines erreichten Zustandes von Bewusstsein einer nationalen Wertegemeinschaft suggerieren – was nur unvollständig richtig ist: als substantiviertes Verb (zivilisieren) weist es auf einen Prozess einer Entwicklung hin: „Zivilisierung“ ist denn auch bei Norbert ELIAS ein langfristiger, andauernder Wandel von Persönlichkeitsstrukturen, der auf einen Wandel der Sozialstrukturen zurückgeht.
Sein Entwicklungsmodell formuliert er zunächst für Westeuropa (das ist sein „abendländischer“ Ansatzpunkt) in der Phase von ca. 800 bis 1900 n. Chr. Als Faktoren des sozialen Wandels sieht er zum Einen den kontinuierlichen technischen Fortschritt und die Differenzierung der Gesellschaften und zum Anderen den ständigen Konkurrenz- und Ausscheidungskampf zwischen Menschen und Menschengruppen. Beides führe zu einer „Zentralisierung der Gesellschaften“ (Einrichtung staatlicher Gewalt- und Steuermonopole) sowie zur Geldwirtschaft. Zwischen diesen sozialstrukturellen Veränderungen und den Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur wachsen die gegenseitigen Abhängigkeiten. ELIAS nennt sie die „Interdependenzketten“, in die (mehr und mehr) Menschen eingebunden würden.
Die wechselseitige Abhängigkeit erzwinge nun in jedem (von uns) eine zunehmende Selbstkontrolle, im Sinne einer Affektkontrolle und der Selbstdisziplin: Zwischen den spontanen emotionalen Impuls und die tatsächlich vorgenommene Handlung trete nun immer wieder ein Zurückhalten dieses Impulses. Das eigene Handeln und seine Konsequenzen werde im Vorherein überdacht. Mittels der Verstärkung des „Über-Ichs“ wird diese Haltung nach und nach verinnerlicht und verfestigt. Der Zentralisierung innerhalb der Gesellschaft folgt mit gewisser Verzögerung eine „Zentralisierung“ innerhalb der Persönlichkeit. Das zeitige vor allem im Verhalten der Menschen untereinander Veränderungen (ELIAS). Bei steigender Zivilisierung
- sinkt die Gewaltbereitschaft gegenüber den Mitgliedern der eigenen Gesellschaft
- wird die Sexualität zunehmend stärker kontrolliert sowie unterdrückt und tabuisiert
- werden die Formen von Essen und Trinken strenger oder „verfeinern“ sich (zum Beispiel durch differenziertere Esswerkzeuge)
- werden die Ausscheidungsfunktionen zunehmend tabuisiert und dem Blick anderer Menschen entzogen
„Zivilisiert“ sind also tatsächlich die, bei denen die Toiletten sauber sind?! Der Prozess der Zivilisierung ist – wie alle sozialen Prozesse – gerichtet und umkehrbar, aber nicht planbar. Als „Entzivilisierungsschub“ führt ELIAS den deutschen Nationalsozialismus an, dessen Entstehung er akribisch analysiert. Halten wir fest:
Zivilisation (engl./frz.) | Kultur (deutsch) |
|
|
Hubert BRUNE – Phantom im Netz
Hubert BRUNE (ihn nur im Netz aller Dinge gefunden, hin- und herrecherchiert, nur spärliche Informationen über die Person, wie er in Kreisen der Kulturwissenschaftlicher rezipiert wird, ist mir unbekannt – aber er stellt einen Bezug zur Astrologie her, Webadresse unten, seine vollständigen Gedanken werde ich hier nicht darstellen können) sieht Kultur als eine zu einer bestimmten Zeit an einen bestimmten Raum gebundene kulturelle [unglücklich, weil ein Begriff mit seiner eigenen Ableitung erklärt wird – mein Kommentar] Gemeinschaftsform – alltagssprachlich auch Kulturkreis genannt. Für BRUNE ist auch die Natur [üblicherweise definitionsgemäß das „nicht vom Menschen Erschaffene/Gestaltete“] gewissermaßen eine Kultur – nämlich die „1. Kultur“. Ich füge an dieser Stelle nicht weiter kommentiert hinzu: Auch Tiere können Kultur haben – vgl. Frans de WAAL: Der Affe und der Sushimeister. Das kulturelle Leben der Tiere, 2002.
Kulturelle Einschachtelungen müsse man berücksichtigen, um verstehen und ermessen zu können, dass Kulturen in diesem Sinne nichts anderes als abgeleitete „Modernen“ aus einer ursprünglichen Kultur seien. BRUNE geht davon aus, dass „die Kultur als Hyperonym bzw. Superordination die Zivilisation als deren Hyponym bzw. Subordination in sich birgt“. Schwer verständlich. Sehen wir weiter.
1989/90 – das ist die Zeit der Wiedervereinigung von Deutschland West und Ost – sei für die Deutschsprechenden nicht nur die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Zivilisation, sondern auch die des Wortes Kultur fast vollständig verloren gegangen. Dass sich die Bedeutung von Zivilisation im Deutschen zugunsten der Bedeutung des Wortes „civilization“ im Englischen verändert hat, deutet BRUNE nicht nur als einen großen Verlust für die deutsche Sprache, sondern vor allem für die Kultur insgesamt:
Wenn Zivilisation als angenommen „Höheres“ der Kultur vorstehe und nur noch in dieser Bedeutung verstanden werde, dann werde dadurch nicht nur das Wort Kultur und die Kultur an sich degradiert, sondern auch der wissenschaftliche Wert, der mit diesem Wort ursprünglich gegeben war, und damit das Wissen – die Information – über einen großen Teil des semantischen Wortfeldes Kultur. Dieser Verlust in der Begrifflichkeit bedeutet für ihn ein Verlust an Erkenntnis.
BRUNE bezieht sich häufig auf SPENGLER, und laut SPENGLER sind Kulturen „Einzelwelten des Werdens, die im Gesamtbilde der Geschichte ebenso schwer wiegen, die an Großzügigkeit der seelischen Konzeption, an Gewalt des Aufstiegs die Antike vielfach übertreffen.“ Er spricht von acht Kulturen, die „eine in keiner Weise bevorzugte Stellung einnehmen.“ (SPENGLER, 1917, S. 24)
„SPENGLERs zentrale Denkerfahrung liegt in der Beobachtung, dass Formen ein Eigenleben haben. Die Form, die Spengler vor allem interessiert, ist das, was er eine Kultur nennt.“ (Sloterdijk, S. 177).
„[Er] redet in solchen Zusammenhängen ganz nietzscheanisch, wobei man wissen muß, daß Nietzsche in seinen besten Augenblicken als Immunologe spricht, wie ein Kulturarzt, der weiß, daß Kulturen und ihre Träger, die Menschen, Wesen sind, die mit dem Ungeheuren geimpft werden und eigensinnige Immunreaktionen entwickeln, aus denen verschiedene kulturelle Temperamente hervorgehen. In diesem Sinne muß man Spenglers These auffassen, daß es nur acht Hochkulturen im eigentlichen Wortsinn gegeben habe. Nur in dieser kleinen Zahl von Fällen haben sich die hochkulturschöpferischen Immunreaktionen vollzogen, von denen jede einzelne einen unverwechselbaren Charakter besaß. Die 8 hohen Kulturen wären demnach die Abwicklung lokaler Immunreaktionen.“ (Sloterdijk, S. 225-226).
Halten wir die Hauptgedanken BRUNEs fest:
- Kulturen sind grundsätzlich offen gegenüber anderen Kulturen (fast wie bei Toynbee), und keine Monaden (wie bei Spengler).
- Vorgeburtliche Phasen der Kulturen sind von großer Bedeutung (bei Spengler spielen sie eine nur untergeordnete Rolle).
- Zivilisatorische Phasen der Kulturen sind auch als bereits „vergreiste“ Phasen noch nicht völlig starr (wie bei Spengler), sondern können – wenn auch nur schwach – im Zyklus verbleiben.
- Die Geschichte der Menschen verläuft auf mindestens zwei Bahnen, d.h. als Menschenkultur und als Historienkultur (diese heißen bei Spengler „Hochkulturen“ und gelten als die einzigen geschichtlich relevanten Kulturformen).
Und NIETZSCHE? – Was sagt NIETZSCHE? Seine „Fragmente“ sind ein komplexer Diskurs, den ich weder zusammenfassen noch wiederholen möchte. Ich gehe versuchsweise vom bereits erwähnten Nationalbewusstsein aus:
„Die Sonnen der Identitäten“ – so in Analysen noch anderer Autoren, Kultur und Bewusstsein einer nationalen Identität zu fassen – werden zum Zentrum der Erfahrbarkeit von kultureller Besonderheit. Ausdruck dieser sind neben Wissenschaft, Religion und Technik ganz bestimmt eben die Künste. Die Summe aller Künste ist dann Teil einer Kultur und beschreibt sie mit. Kunst (und nehmen wir konkret nun einmal Literatur und das geschriebene Wort als Beispiel) kann als Ausdruck der Identität – der je einzelnen eines Menschen oder eines Gruppenganzen – gesehen werden und ist, wie beim Zivilisationsbegriff, nichts ein für allemal Fertiges. Kultur ist geschichtliches Zeugen von fortwährender Identitätsausbildung. Wenn dem so ist, dann gehören zu diesem Gedankenweg, den ich gerade beschreite, zwei Ausgangspunkte. Der eine ist das gestaltende, lebende Geschehen im Ausdruck seines Seins, der andere ist die Quelle, aus der sich dieser Ausdruck seine Gestalten schöpft. Es gibt keine Identität ohne das Schöpfen aus dem Verborgenen (man mag es vorzeitlich oder nachzeitlich, gewesen und noch nicht geworden nennen), das aus dem Vorbewussten ans Licht des Bewusstseins befördert wird. Das gilt für das Individuum wie für die Zusammenfassung von Individuen in Kollektiven. Bei Sprache haben wir es mit einem solchen Ausdruck von Identität zu tun. Und was Sprache angeht, wissen wir sehr genau, wie weit nach unten die Wurzeln ihrer ans Licht strebenden Äste reichen. Astrologisch bewegen wir uns hier im Feld des II. Quadranten zum IV. Quadranten. Die Volksseele, das 4. Haus – Krebs – Mond.
Die verfluchte Volksseele! Wenn wir von deutschem Geiste reden, so meinen wir die deutschen grossen Geister, Luther, Goethe, Schiller und einige Andere, nicht den mythologischen Phantom der vereinigten Ungeistermasse, in der – – – Besser wäre es schon, von lutherartigen Menschen usw. zu reden. Wir wollen vorsichtig sein, etwas deutsch zu nennen –. zunächst ist es die Sprache, diese aber als Ausdruck des Volkscharacters zu fassen, ist eine reine Phrase und bis jetzt bei keinem Volke möglich gewesen, ohne fatale Unbestimmtheiten und Redensarten. Griechische Sprache und griechisches Volk! Das bringe Einer zusammen! Überdies steht es ähnlich wie bei der Schrift: das allerwichtigste Fundament der Sprache ist eben nicht griechisch, sondern wie man jetzt sagt, indogermanisch. Schon besser steht es mit Stil und Mensch. Von einem Volke Prädikate auszusagen, ist immer sehr gefährlich: zuletzt ist alles so gemischt, dass erst immer später eine Einheit wieder an der Sprache sich einfindet oder eine Illusion der Einheit sich an ihr einstellt. Ja Deutsche! Deutsches Reich! Das ist etwas, Deutschsprechende ist auch etwas. Aber Race-Deutsche! Das Deutsche als künstlerische Stileigenschaft ist erst noch zu finden, wie bei den Griechen der griechische Stil erst spät gefunden ist: eine frühere Einheit gab es nicht, wohl aber eine schreckliche κρασις. (NIETZSCHE, Fragmente 29 {47]; weiterlesen)
Kulturauffassungen wandeln sich (nur nochmals zur Erinnerung), die der Romantik ist eine andere als die der Renaissance, der Klassik, der Postmoderne – was uns nicht weiter verwundert, wenn wir uns nur die Zyklen der äußeren Planeten und die größeren und kleineren Rhythmen anschauen. Auffassungen geben deutlich Auskunft über die vorherrschenden Ängste und die Hoffnungen in begrenzten Zeitabschnitten, oder über Anmaßungen und Übersteuerungen.
Geoffrey HARTMAN – Unbehagliche Kultur
Geoffrey HARTMAN – 1929 in die jüdische Familie Hartmann geboren, 1939 mit einem der letzten Kindertransporte nach England gelangt und die Zeit bis zum Kriegsende im Waddesdon Manor verbracht – folgte 1946 seiner Mutter nach New York, änderte seinen Namen in „Hartman“ und wurde amerikanischer Staatsbürger.
In seinem Erklärungsgedankengang geht er auf die Kulturauffassungen in unterschiedlichen Literaturepochen ein (er ist Literatur-, nicht Sozialwissenschaftler) – und kommt ebenfalls zu NIETZSCHE, dem eben Zweifel an dauerhafter Monumentalität kultureller Äußerungen gekommen seien. NIETZSCHE bestreite die Existenz von etwas „Deutschem“ zwar nicht, meine jedoch, dass es zu früh sei, von dergleichen zu sprechen. Das Vorgefundene (zur Zeit, da NIETZSCHE dies schrieb) sei noch nicht die Form einer deutschen Kultur. Deshalb auch der Aufschrei (s. oben) – die verfrühte Nationalisierung des Geistes sei das Schlimmste, was Deutschland passieren konnte. [Die Vermischung von Geist und Seele bemerken wir an dieser Stelle und lassen sie noch in Ruhe.] Worum NIETZSCHE sich bemüht, ist die Entwirrung zweier anderer Begriffsvermischungen. Nämlich die Verwechslung von Kultur und Rasse und die Verwechslung von Kultur und nationalistischer Politik. Für beides scheint man in unseren Breiten anfällig zu sein. Auf unten angeführtes Zitat haben sich die Nationalsozialisten (unter Umgehung des Kontextes) berufen, NIETZSCHEs eigentliche und ausgedrückte Ablehnung ignorierend:
Der Staat aber ist immer nur das Mittel zur Erhaltung vieler Individuen: wie sollte er Zweck sein! Die Hoffnung ist, dass bei der Erhaltung so vieler Nieten auch einige mit geschützt werden, in denen die Menschheit kulminiert. (Friedrich NIETZSCHE)
Wenn man ein kulturelles Gedächtnis [meine Hervorhebung] hat, muss das nicht zwangsläufig nostalgisch oder ländlich-idyllisch Vorstellungen zum Inhalt haben. So ist die Vergangenheit wohl kaum gewesen, jedenfalls nicht im Ganzen. Dann hat man auf einmal viele Normen, dann begegnet man in der Geschichte vielen unterschiedlichen Stimmen, Aussagen und Normen. Und dieser Druck der Multiplizität der Normen, diese Heteronomie, ich nenne sie auch Surnomie, lässt uns häufig verstummen. Man weiß nicht, was der richtige Weg ist. Und diese Surnomie führt dann zu einer Last, einer Bedrängung, die dann dialektisch eine unheilvolle Einigung fördert. Und wie Adorno sagt, ist der Genozid eine Art von absoluter Integration. (Geoffrey HARTMAN)
„… die Inflation des Kulturbegriffes hat zu tun mit „Ortlosigkeit und Traditionsverlust, die die Moderne dem Menschen auferlegt“ und dem mitunter trügerischen Einheitsversprechen der Kultur.“ (Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 22.03.2000, zu: Geoffrey HARTMAN, Das beredte Schweigen der Literatur – Über das Unbehagen an der Kultur)
Hannah ARENDT – Arbeit und Werk
Es gibt viele, die hier nicht zu Wort kommen. Eine habe ich noch, die ich heranziehen möchte: Hannah ARENDT, ihres Zeichens Waage. Später dazu mehr. ARENDT gilt als Vertreterin eines Konzepts von „Pluralität“ im politischen Raum, in dem zwischen den Menschen eine potentielle Freiheit und Gleichheit besteht. Sie betont die Wichtigkeit, die Perspektive des Anderen einzunehmen. An politischen Vereinbarungen, Verträgen und Verfassungen sollten auf möglichst konkreten Ebenen gewillte und geeignete Personen beteiligt sein. Damit steht sie rein repräsentativen Demokratien kritisch gegenüber und bevorzugt Rätesysteme und Formen direkter Demokratie. ARENDTS öffentliche Stellungnahme zu politischen Ereignissen sind bei Gegnern, aber auch Freunden nicht unumstritten; ihre Zivilcourage wird oft als Unnachgiebigkeit wahrgenommen. Bekämpft wird insbesondere ihre Arbeit zum Eichmann-Prozess. Mit ihrem politischen Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft Anfang der 1950er Jahre wird sie in der Öffentlichkeit bekannt.
Bei der Lektüre von Vita activa – ARENDTS philosophisches Hauptwerk von 1960 – notierte ich seitenweise Gedanken: Der heutigen Gesellschaft geht das Soziale über alles. Sozial heißt: Gleichheit unter den Mitgliedern und Gleichbehandlung. Dabei gelangen dann Menschen zueinander, die nichts miteinander zu tun haben, aber zu einer großen Familie gehören sollen. Eine ganz andere „Gleichheit“ ist die, die man unter Ebenbürtigen findet, jeder trägt das Seine bei, aber nicht sozial (Kollektiv bedeutet mitnichten Pluralität). Nun – das schrieb ich 1998 – das sind zwanzig Jahre vor heute. Ich leite einmal zum Begriff der Gesellschaft über, ein ebenso strapazierter wie der der Kultur. ARENDT schreibt:
Konformismus ist das Merkmal aller Gesellschaft und die völlige Einstimmigkeit innerhalb zusammengeschlossener Gruppen in voller Freiheit erreicht, ist das letzte Stadium dieser Entwicklung.
Die Gesellschaft ist die Form des Zusammenlebens, in der die Abhängigkeit des Menschen von seinesgleichen um des Lebens selbst willen und nichts sonst zu öffentlicher Bedeutung gelangt, und wo infolgedessen die Tätigkeiten, die lediglich der Erhaltung des Lebens dienen, in der Öffentlichkeit nicht nur erscheinen, sondern die Physiognomie des öffentlichen Raumes bestimmen dürfen. (H. ARENDT, 1960, 47)
Sie unterscheidet in ihrer Definition von Gesellschaft zwischen Öffentlichem (der Politik) und Privatem (dem Intimen) und spricht u.a. vom „Werk“ des Menschen (als unterschiedlich von seiner Arbeit, die er im öffentlichen und/oder privaten Raum leistet), das im Zeichen an der Spitze des 5. Hauses zu suchen ist. Worin dieses Werk individuell besteht, sagt uns der Herrscherplanet, das bewegliche Element.
Damit kann festgehalten werden: das Werk ist von Mensch zu Mensch auf unterschiedliche Bereiche ausgerichtet (nehmen wir ein Kollektiv – so liest sich das Kollektivwerk analog). Ein Herrscher von 5 in 7 reicht ins öffentliche Bewusstsein, ins Begegnende, ein Werk mit Herrscher von 5 in 2 zielt auf den (eigenen) Bestand und ins Konkrete der „Herde“, der man zugehörig ist. Beim Stier stehen die Gemeinschaft und das Soziale im Vordergrund, liegt das Ziel z.B. im Wassermann oder im 11. Haus, geht es um das Ursprüngliche, das ist das, was es war, bevor es in die Zeit trat. Formuliert werden kann also: Der AC (Hintergrund) und mit ihm das 12. Haus und der I. Quadrant zählen zum „Privaten“ (das Prinzip des Privaten, seine Durchsetzung, seine Form und die Ausführung dieser Form), während der DC (Vordergrund) mit dem an ihn angrenzenden 6. Haus und dem III. Quadranten ins Öffentliche reicht: die Bedingungen des Öffentlichen und die öffentlichen Räume, in den gewirkt wird.
ARENDT kommt zum Schluss, dass was auch immer man öffentlich tue, eine Vortrefflichkeit erreichen könne, die keiner Tätigkeit innerhalb des Privaten zukommen könne. Eine private, subjektive Familienwelt kann die Wirklichkeit nicht ersetzen,
[…] die aus einer Gesamtsumme von Aspekten entsteht, die ein Gegenstand in seiner Identität einer Vielfalt von Zuschauern darbietet. Nur wo Dinge, ohne ihre Identität zu verlieren, von Vielen in einer Vielfalt von Perspektiven erblickt werden, so dass die um sie Versammelten wissen, dass ein selbes sich ihnen in äußerster Verschiedenheit darbietet, kann weltliche Wirklichkeit eigentlich und zuverlässig in Erscheinung treten.
Es geht um Vielfältigkeit; dass sie verschwindet und zerstört wird, zeigt sich am Grad der Isolation der Menschen voneinander. In der Isolation können sie sich nicht mehr miteinander verständigen – was einem radikalen Rückfall (vgl. die Entzivilisierung bei ELIAS) ins Private entspricht. Eine gemeinsame Welt verschwinde, wenn sie nur noch unter einem Aspekt gesehen wird. Allerdings bedeute es für Menschen, sofern sie nicht mehr als ein Privatleben haben, dass sie in einem Zustand leben, in dem sie wesentlicher menschlicher Dinge beraubt sind. Der private Charakter liege in der Abwesenheit anderer Selbstverständnisse (im Sinne von Personen). Öffentliches aber und Privates seien voneinander abhängig – sterbe das Öffentliche (wie gesehen, das 7. Haus mit dem III. Quadranten) ab, sei auch das Private radikal bedroht. Viele Menschen unserer (Massen-)Gesellschaften erleben es derzeit: Sie haben weder eine öffentliche Bedeutung noch eine Sicherheit/Sicherung des Privaten. Die Beraubung der „eigenen vier Wände“ führt zu Beziehungsunfähigkeit und Verlassenheit.
Noch etwas können wir mitnehmen: Über die Unterscheidung von Besitz und Eigentum kommt ARENDT zum Gedanken, dass das Eigentum die Stätte des Privaten sei, ein Ort, an dem das Wesen sein könne, was es dem Wesen nach war. Das Eigentum in ihrem Sinne ist der Ort der Verborgenheit, an dem die Menschen geboren werden und sterben, aber nicht ihr Leben verbringen. Das Geheimnis des Anfangs und des Endes sterblichen Lebens könne nur da gewahrt werden, wo die Helle der Öffentlichkeit nicht hindringe. Das Eigentum als des Menschen Eigenstes. Der Aufschwung des Besitzes, die Aufwertung und gar Überbewertung seines Konzeptes seit der Antike hat das wesentlich verändert. Privatbesitz, so lesen wir bei ARENDT, ist aber nicht etwa der Platz in der Welt, sondern die Freiheit von den Notwendigkeiten des Lebensunterhalts. Freiheit wiederum ist nicht das automatische Resultat des Schwindens von Notwendigkeiten. Und Arbeit macht mitnichten frei.
Bei ARENDT ist Gesellschaft ein Familienkollektiv, in seiner ökonomischen Form eine Art Über-Familie, politisch organisiert in Form der Nation. Was aber hat dies alles mit Kultur oder Zivilisation zu tun? Ich schaue in meine Notizen, die noch einiges an Zwischenschritten beinhalten, und lese meine damalige Zusammenfassung:
„Wir befinden uns in einem Gesellschaftszustand, in dem die Kultur zum Zwecke der Unterhaltung der Massen, denen man leere Zeit vertreiben muss, benutzt, missbraucht und aufgebraucht wird.“
Es ist vom Werk und vom Wirken die Rede – der Ausdruck eines Subjekts (und die Gesellschaft ist kollektives Subjekt) – im öffentlichen Raum gewesen. Die Summe aller dieser Wirkungen und Werke in ihrer vielfältig-unterschiedlichen Gewichtung könnte als Kultur begriffen werden. Ein einheitliches Weltbürgertum, eine über die wirtschaftliche Globalisierung hinausgehende Einheitlichkeit und eine Integration bis hin zur Inklusion ist Verlust von Kultur wie auch Herkunft. Es ist die Entfernung von den Wurzeln.
An dieser Stelle enden die Online-Ausführungen. Alles Weitere im Büchlein.
Literatur bzw. Quellen
- http://www.hubert-brune.de/kz_definition.html
- Geoffrey Hartman, Das beredte Schweigen der Literatur, Suhrkamp 1996
- Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, 1939
- Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft, 1969
- Norbert Elias, Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, 1992
- Friedrich Nietzsche, Fragmente, 1869-1874, Band 1
- Hannah Arendt, Vita activa, 1960
- Anne-Christine Feldhusen, Der Begriff der Arbeit bei Hannah Arendt, 2001
- Peter Sloterdijk, Die Sonne und der Tod, 2001
- Dominic Vaas, Olaf Schwarz, Kathrin Anton, Französische und deutsche Kulturauffassung – Die Entstehung des Gegensatzes von Zivilisation und Kultur nach Norbert Elias, 2003
- Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1917