Vom Vorhersagbaren und vom Unberechenbaren
Wir fragen das so dahin: „Alles in Ordnung?“ – Meistens ist ja auch alles in Ordnung – mehr oder weniger. Die Frage ist nicht tiefgehend, sondern als Floskel gemeint, die wir mit einem leichten “Jaja, alles in Ordnung.“ beantworten, weil wir der Person, die sie stellt, die wahre Befindlichkeit gar nicht erzählen möchten, und sie diese auch gar nicht hören will.
Aber dann passiert etwas in unserem Leben, und dessen Ordnung gerät aus den Fugen. Nein, nichts ist mehr in Ordnung. Das Chaos ist hereingebrochen, etwas, das ich weder erwartet noch in dieser Härte kontrollieren oder gar zähmen könnte.
Unsere Sprachen sind voller Bilder rund um die Ordnung und die Unordnung. Und es gibt unterschiedliche Definitionen. Hier einige der Definitionen, die wir für die deutsche Sprache und für das Wort „Ordnung“ im Duden finden:

Das Ordnen nach Kennzeichen schafft ein lineares, syntagmatisches Merkmalsystem: etwas sieht gleich aus – also gehört es zusammen. Scheren zu Scheren, Bleistifte zu Bleistiften, etc. Wir könnten auch nach Farben ordnen: alles Blaue zusammen, alles Rote zusammen. Natürlich können wir auch nach Funktionen ordnen, auch sie sind Merkmale. Das wäre dann: alles, was schneidet, gehört zusammen, oder alles, aus dem wir trinken können…Indem wir Kategorien schaffen, können wir ordnen.
Ordnung ist …
- durch Ordnen hergestellter Zustand, das Geordnetsein, ein ordentlicher, übersichtlicher Zustand
- die Einhaltung der Disziplin, bestimmter Regeln im Rahmen einer Gemeinschaft
- die durchgesetzte und kontrollierte Regelung des öffentlichen Lebens, die auf bestimmten Normen und durch den Staat mittels Verordnungen oder Gesetzgebung beruht
- die Art und Weise, wie etwas geordnet, geregelt ist; die Anordnung
- eine Formation
- eine größere Einheit, die aus mehreren verwandten Tier- oder Pflanzenfamilien besteht (Biologie)
- die Bestimmung mathematischer Größen, die nach bestimmten Einteilungen gegliedert sind (Mathematik)
- die Struktur einer geordneten Menge (Mengenlehre)
- eine bestimmte Stufe einer nach qualitativen Gesichtspunkten gegliederten Reihenfolge (1., 2., 3. Ordnung)
Die meisten Menschen unserer Gegenwart pflegen linear, also geradlinig, zu denken. Wenn sie es denn doch nicht tun, dann möchten sie es aber in vielen Fällen. Je länger etwas schon angedauert hat, desto länger wird es so weitergehen, denken sie. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft … Das in etwa ist die Wahrnehmung und infolgedessen die konstruierte Wirklichkeit der meisten Menschen. Aus dieser (subjektiven) Wahrnehmung erwächst ihre Erkenntnis, dass alles, sogar die Natur, steuerbar und kontrollierbar sei. Daraus ist ja zunächst auch viel Nützliches hervorgegegangen. Nützlichess heißt allerdings nicht immer zum Guten des Ganzen. Aber:
Alles in Ordnung!
Das Gegenteil von Ordnung ist die Unordnung. Ist nun Unordnung zwangsläufig Chaos? Oder ist das nicht vielleicht doch etwas anderes? Und ist der Kosmos immer in Ordnung im Sinne von aufgeräumt? Kosmos und Chaos sind auf jeden Fall einander polar gegenüberstehende Konzepte. Die Konzepte wie auch die Begriffe, d.h. die Wörter dahinter, anzusehen und einen Bogen zu spannen, ist mein Anliegen in diesem Aufsatz. Es wird mathematisch, historisch, physikalisch und psychologisch zugehen – alles nicht bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet, alles angerissen. Vielleicht wird der eine oder andere neugierig, weiterzulesen und zu forschen – völlig chaotisch und unvorhersagbar. Und wenn Sie morgen jemand fragt: „Alles in Ordnung?“ werden Sie das alles ganz anders sehen.
Unordnung und Ordnung

Als ich ungefähr elf oder zwölf Jahre alt war, fand ich im Bücherschrank meiner Eltern ein Buch, auf dessen Vorderseite dieses nebenstehende Bild prangte. Es sollte das Buch werden, das mich am meisten prägte. Vielleicht – fällt mir dabei ein – ist Prägung gar nicht das richtige Wort: wir begegnen etwas oder jemandem, das uns entspricht und mit dem wir in Resonanz treten. Der Moment, in dem wir das Zurück- und Mitschwingen spüren, macht uns glücklich. Dieser Bruchteile von Sekunden dauernde Moment erweckt in uns, was bis dahin geschlafen hat. Wie sollten wir das jemals vergessen? Es dauerte mehrere Jahre, bis ich das Buch und seine vielen verschiedenen Kapitel durchdrungen hatte, wieviel ich verstand – frage ich mich heute noch. Aber es war und blieb der Ausgang für meinen Gang in die Welt und meine Suche.
Kosmos ist die Bezeichnung für das das Weltall Umfassende, die Bezeichnung für die als geordnet gedachte Welt. Der Begriff geht vermutlich auf Pythagoras zurück, der damit auf die harmonischen Prinzipien des Universums verwies. Diesen Kosmos dachte man sich in der Antike mit der Sphäre des Tierkreises abgeschlossen.
Zu jener Zeit ging man davon aus, dass innere und äußere Ordnungen „von selber“ bzw. infolge immanenter Abläufe entstünden. Auf diese Weise habe sich die Welt als der Kosmos gebildet, so hat man sich vorgestellt, habe sich die Natur entwickelt und eine Ordnung geschaffen, in der alles einen bestimmten Platz und eine bestimmte Funktion hat.
In der Natur herrscht Ordnung. Tut es das? – Nichts ist weniger „in Ordnung“ im statischen Sinne als die Natur. Denn die besteht aus Lebendigem und Organischem, und die besondere Eigenschaft von Lebendigem und Organischem ist, dass es nur dadurch existieren kann, dass sich eine bestehende Ordnung permanent auflöst und verändert. Kristalle z. B sind dagegen Ordnungen, die wir Menschen als „beständiger“, im Sinne von länger andauernd, bezeichnen. Über lange oder über kurze Dauer betrachtet: Jene sich bildenden und auflösenden Ordnungen und Strukturen begegnen uns überall. Solange nur wir die Rhythmen und Abstände, innerhalb derer die Veränderungen geschehen, sehen und überschauen können, ist alles in Ordnung.
Kosmos bzw. Ordnung ist mit Vorhersagbarkeit, d.h. Kontrollierbarkeit verbunden, und die Auflösung dieser vertrauten, vorhersagbaren Strukturen erfahren wir Menschen nicht durchgehend als angenehm. Hinter unserem Empfinden von Unbehagen steht eine Angst vor der Ungewissheit dessen, was sich neu bilden wird. Obwohl wir, um (über-)leben zu können, neue (An)Ordnungen brauchen, können wir nur ein bestimmtes Maß an Auflösung ertragen, und auch das macht Sinn.
Dass Ordnung existiert, können wir mithin bestätigen: unser eigenes Leben, das Leben auf dem Planeten Erde, unsere Zivilisationen und Technologien bestätigen diese Existenz, und sogar die Auflösung bestätigt die Existenz von Ordnung. Was aber war vor der großen Ordnung? – Ordnung entsteht doch nicht aus Nichts? Sie muss sich doch aus etwas entwickeln! Nun ja, Ordnung entsteht unter bestimmten Bedingungen (manchmal sogar spontan) aus der Unordnung.
Un-Ordnung (als Abwesenheit von Ordnung) ist jenes Chaos, das sich nach (vor-) antiker Vorstellung als unbegrenzte Leere jenseits der oben erwähnten abgeschlossenen Sphäre des Kosmos, fortsetzt. Der Zustand vor und nach/hinter der Ordnung ist Chaos? Oder wie verhält es sich? Die Sache mit der Ordnung und der Unordnung und dem Kosmos und dem Chaos hat sich begrifflich entwickelt und in ihrer Entwicklung verändert. Sind Sie noch da? Folgen Sie mir noch?
Was war erst? Das Chaos oder der Kosmos?

Der Satz des Pythagoras besagt, dass in einem rechtwinkligen Dreieck die Summe der Flächeninhalte der beiden Kathetenquadrate genauso groß ist, wie der Flächeninhalt des Hypotenusenquadrats.
Bleiben wir noch eine Weile in der Antike: Pythagoras (geb. 570 v. Chr.; gest. ca. 510 v. Chr.) möchte ich Ihnen in diesem Zusammenhang unbedingt näher bringen. Vielen ist er mit dem Satz des Pythagoras in Erinnerung – manch einer ist nie weiter als bis dahin gelangt, denn Mathematik ist nicht jedermanns Sache. Pythagoras aber war weit mehr als nur ein Satz.
Er war es, der die Orphische Religion (religiöse Strömung der Antike; Orpheus, der angebliche Urheber der Orphik, wurde im 6. Jahrhundert v. Chr., eine Generation vor dem Trojanischen Krieg, zu den Argonauten gezählt) überhaupt erst in Richtung Philosophie gelenkt hat. Seine Philosophie war der Anfang der Wissenschaft, und vieles Nachfolgende, zunächst Platon und Aristoteles, ist im Wesentlichen aus den pythagoreischen Wurzeln gewachsen.
Pythagoras übernahm Begriffe aus dem Orphismus und führte sie in einer neuen rationalen Form neu in seiner „Philosophie“ ein. Die neue Bedeutung des Wortes Theorie stammte von ihm: Theorie ist eine leidenschaftliche Kontemplation, eine geistige Vertiefung. Inwieweit die heutigen Theorien noch immer diese starken Emotionen tragen, kann der Leser selber beurteilen. Ähnlich der Begriff Enthusiasmus, dessen ursprüngliche Bedeutung von einem dionysischen Ritual herrührt, und bedeutet, dass „der Verehrende den Gott in sich hinein einlässt (= sich auf ihn einlässt) und glaubt, er vereinige sich mit ihm“. Ein klein wenig klingt davon noch im heutigen Enthusiasmus mit – jedenfalls, was das Einlassen angeht.
Vorsicht versus Leidenschaft: ohne die bacchischen Elemente wäre das Leben langweilig, mit ihnen alleine ist es gefährlich. Das Apollinische (lineare) gegen das Dionysische (nicht-lineare), das ist der fundamentale Gegensatz, der sich durch die Kulturgeschichte der westlichen Welt hindurchzieht.
Kosmos war von Pythagoras bis Archimedes eine Bezeichnung der Weltordnung, die sich in der Gesamtheit der Naturerscheinungen widerspiegelt. Der antike Vorläufer der heutigen viel enger gefassten Dualität von Chaos-Ordnung war die Polarität von Chaos-Kosmos. Dass es ausgerechnet die Mathematik wurde (und Auskenner mögen mir meine Abkürzung verzeihen), von der viele meinen, sie wäre doch für die Ordnung an sich zuständig (lineare Gleichungen usw.), die letztlich den Gegenpol der Ordnung beweist bzw. daran maßgeblich mitarbeitet, klingt fast schon paradox. Oder noch anders ausgedrückt: es gibt Ordnung im Chaos.
Von der Ordnung des Chaos

Vorausgeschickt sei, dass ich seit Monaten Nervenschmerzen habe, bzw. sie mich besitzen. Sie bestimmen, wie ich mich bewegen kann und ob überhaupt. In dieser Nacht hatte ich im Traum das Empfinden eines gelb-orangefarbenen Strahls, der von meinem Kopf hinunter bis in die Beine fuhr. Ich schnappte nach dem Strahl, bekam ihn zu fassen und hielt ihn wie man einen Schlauch hält, dessen Düse man vorne zuhält, und der sich, voll mit nachdrängendem Wasser, windet. Steck ihn in diese Vertiefung, sagte eine Stimme zu mir. Folge meinen Anleitungen. Siehst du die Vertiefung? Nimm den Strahl und steck ihn dort hinein… Und während ich den gelb-orange, zu rot wechselnden Strahl in das Loch stopfte, dabei viel Kraft aufwandte und er sich immer wieder meiner Hand entringen wollte, wurde ich ruhiger, und die Stimme leiser.
In unserer moralischen Welt und im umgangssprachlichen (Un-) Verständnis wird Ordnung schnell das Wünschenswerte und „Chaos“ das, was vermieden werden muss. Fertig gedacht.
Chaos ist mitnichten so etwas wie Unordnung im alltäglichen Verständnis, sondern etwas, das in seiner Fülle vielschichtig, und doch sehr wohl im Detail, nicht aber in Kürze, verstanden und beschrieben werden kann.
Der moderne Begriff Chaos in Physik und in anderen Naturwissenschaften sowie in der reinen wie der angewandten Mathematik, bedeutet vor allem eins: große Komplexität. Und damit auch ganz anderes als der antike Begriff. Im heutigen wissenschaftlichen Verständnis ist Chaos das Unvorhersagbare, und damit das Nicht-Kontrollierbare. Warum das so ist, und wie es ist, zeigt der nächste Abschnitt.
Da die Theorie vom Chaos – die Chaos-Theorie – rein wissenschaftlich als „Dynamik nicht-linearer Systeme“ oder als „Komplexitätstheorie“ bezeichnet wird, sind nicht wenige Menschen aufgrund fehlender Kenntnis der Begriffe und damit einhergehend ihrer Bedeutung abgeschreckt: Ordnung ist einfach, denken sie, möchten sie denken – komplexe Sachverhalte sind kompliziert. Ihnen fehlen anschauliche Beispiele aus ihrem unmittelbaren Umfeld.
Also Schritt für Schritt: Chaos findet sich überall in unserem Alltag und außerdem sehr viel öfter als – Ordnung! Leben ist ein Überleben immer an der Grenze zwischen gerade noch Ordnung zum Chaos. Der tropfende Wasserhahn (dessen nächstes Plopp wir nicht voraussagen können) oder der Stau auf der Autobahn zu unserem Arbeitsplatz, der vor zehn Minuten noch nicht absehbar gewesen ist, seien als erstes genannt. Jeder kann, wenn er einige Momente nachdenkt, etliche Beispiele finden.
Die angesprochenen nicht-vorhersagbaren Prozesse sind durch eine empfindliche Abhängigkeit von Anfangs- und Randbedingungen, oder von noch anderen Parametern, charakterisiert. All diese Vorgänge sind nicht-linear. Ich wiederhole mich: Den meisten Vorgängen in der Natur liegen nichtlineare Prozesse zugrunde, man sagt: sie zeigen chaotisches Verhalten. Hier sind noch mehr Beispiele aus Medizin, Meteorologie, Biologie und Physik (auf einige von ihnen gehe ich später näher ein):
- Wetter hat chaotischen Charakter. Bei bestimmten Wetterlagen sind durchaus Vorhersagen für eine Woche möglich, bei anderen kaum für 24 Stunden. Selbst bei vollständiger Information scheitert eine langfristige Wettervorhersage. Warum? Lesen Sie mehr dazu unter Butterfly-Effekt weiter unten.
- Das Herz-Kreislauf-System kann als „chaotisch“ betrachtet werden: die Vorhersage des plötzlichen Herztodes oder (allgemeiner gesagt) die Diagnose von über das vegetative Nervensystem transportierte Erkrankungen fallen hierunter. Bei Operationen beschädigte Nerven erholen sich wieder, wenn die körperliche Ursache behoben und die Entzündung der beschädigten Nerven abgeklungen ist. Die meisten der neuropathischen Reaktionen (nicht nur bei bei Diabetikern) lassen sich weder vorhersehen noch vorhersagbar behandeln.
- Auch die Entstehung tödlicher Embolien bei Arterienverkalkung, der Ausfall bestimmter Hirnfunktionen beim Schlaganfall oder die Entstehung bösartiger Tumoren nach Mutationen von Suppressor-Genen verlaufen „chaotisch“. Prognosen nicht möglich.
- Populationsdynamiken im Räuber-Beute-Verhältnis sind nicht-lineare Systeme. Unter Räuber und Beute werden dabei zwei Klassen von Lebewesen verstanden, wobei die eine sich von der anderen ernährt; es muss sich allerdings nicht unbedingt nur um Tiere oder einzelne Arten handeln.
- Das magnetische Pendel, bei dem eine an einem Faden aufgehängte Eisenkugel über mehreren Magneten pendelt, verhält sich chaotisch.
- Das Doppelpendel (lässt sich aufgrund von nur zwei unabhängigen Freiheitsgraden leicht modellieren und auch leicht herstellen) ist Beispiel für überraschende Wechsel im chaotischen Bewegungsablauf.
- Das Dreikörperproblem – und damit auch unser Sonnensystem oder Sternensysteme aus drei oder mehr Sternen wie beispielsweise Sternhaufen – zeigt nicht-lineares Verhalten, dazu unten mehr.
- Das Gerät zur Ziehung der Lottozahlen, das Billard und der Flipperautomat sind Systeme mit stoßenden Kugeln. Entweder kollidieren die Kugeln miteinander oder werden an gekrümmten Hindernissen reflektiert, womit Störungen exponentiell anwachsen – und chaotisch werden.
In der Beschreibung und Erklärung verschiedener Phänomene in den Geistes- und Sozialwissenschaften hat sich der Chaosbegriff als nicht weniger präsent erwiesen:
- In der Kommunikationswissenschaft und in der Nachrichtenforschung erklärt der Chaosbegriff-Ansatz die nichtlineare Auswahl und Gestaltung von Nachrichten.
- Zahlreiche Verlaufskurven von Wirtschaftsdaten (Börsenkurse und Konjunkturentwicklung) haben nichtlineare Eigenschaften und bereits Mandelbrot wies darauf hin, dass sie sich mit Hilfe von Fraktalen und Intermittenzen beschreiben lassen. (Auf Fraktale werde ich in einem anderen Aufsatz eingehen.)
- Vor allem Krisen und Übergangszustände von Kulturen bzw. Zivilisationen weisen nichtlineare Eigenschaften auf (Geschichtswissenschaft). (Frage: Warum ist das Römische Reich untergegangen?)
- Sprachpsychologische Befunde zum Stottern oder die Ursachen für kriminelle Affekttaten (Amokläufe) lassen sich mit dem Chaosbegriff erklären.
- Familien (damit sind durchaus auch Gruppen gemeint) sind Systeme, die äußerst empfindlich auf jede Änderung von Rand- und Rahmenbedingungen reagieren. Ändern sich zu viele Parameter gleichzeitig, geht es „chaotisch“ und unberechenbar zu.
- Astrologie – die als unwissenschaftlich bezeichnete Schwester der Astronomie, die sich allerdings auf deren Erkenntnisse, was die Planetenstände angeht, stützt – kann zwar Prognosen machen. Dies nämlich aufgrund der aufgezeigten Muster, das ein Ereignis oder eine Geburt charakterisiert. Sie zeigt allerdings nur Tendenzen in die Richtung auf die Umsetzung von Konstellationen auf (die Deutungsarbeit ist Ergebnis jahrhundertelanger Sammelarbeit an Verwirklichungen). Denn alles Lebende ist nicht-linear, so auch der Mensch. Das Wissen um die Bedeutungen der Planetenstände, die Bedeutungen der Zeichen und ihrer Kombinationen ist sehr komplex, und zeigt Ereignisse und Menschen in ihrem chaotischen Verhalten. Manches ist nicht vorhersagbar.
Möchten Sie sich einige Phänomene näher ansehen und noch mehr darüber erfahren, wo im Alltag wir sie finden?
Ein Schmetterling und sein Attraktor

Der einprägsame Begriff Schmetterlingseffekt stammt von dem amerikanischen Meteorologen Edward N. Lorenz, der 1972 vor der American Association for the Advancement of Science einen Vortrag mit dem Titel Predictability: Does the Flap of a Butterfly’s Wings in Brazil set off a Tornado in Texas? hielt. In seiner ursprünglichen Form verwendete er allerdings den Flügelschlag einer Möwe statt den des Schmetterlings. Der Lorenz-Attraktor ist der seltsame Attraktor eines Systems von drei gekoppelten, nichtlinearen gewöhnlichen Differentialgleichungen.
Haben Sie schon einmal vom Schmetterlingseffekt gehört? Verwechseln Sie ihn auf keinen Fall mit dem Domino- oder Schneeballeffekt, bei dem sich kleine Effekte über eine Kettenreaktion hin zu einer ganzen Lawine selbst verstärken. – Beim Schmetterlingseffekt haben wir es mit einer Metapher für eine große Empfindlichkeit auf kleine Abweichungen in den Anfangsbedingungen in komplexen, nichtlinearen dynamischen Systemen zu tun: Wenn in Shanghai ein Schmetterling mit seinen Flügeln schlägt, könnte damit im Tausende Kilometer entfernten New York ein gewaltiger Wirbelsturm die Stadt verwüsten. Kleine Ursachen hier können woanders große Wirkungen haben. Der Butterfly-Effekt wird auch als „Wolke der Ungewissheit“ bezeichnet – trotz all der schnellen Rechner ist es unmöglich, alle Komponenten so zu erfassen, dass eine gültige Vorhersage, z.B. bereits erwähnte Wettervorhersage, getroffen werden kann. Und: Chaos breitet sich – in Wellen – aus.
Edward Lorenz war es, der daran geforscht hat, warum die Wettervorhersage gelingt, bzw. bisweilen nicht gelingt. Er hat herausgefunden, dass es daran liegt, dass die auf vielen Ausgangsbedingungen beruhenden Berechnungen sehr komplex sind. Ändert sich während des Berechnungsvorganges eine der Bedingungen, ist die gesamte Berechnung hinfällig. Um Lorenz und den Butterfly-Effekt annähernd verstehen zu können, müssen wir einen Schritt zurückgehen.
Bereits Ende des 19. Jahrhunderts stieß der französische Mathematiker Jules Henri Poincaré (1854-1912) auf ein physikalisches Problem. Poincaré, der auf dem Gebiet der Algebra arbeitete, untersuchte das Dreikörpersystem:
Mit Hilfe der von Newton entdeckten Gravitationsgesetze lassen sich die Bewegungen von zwei Himmelskörpern eindeutig berechnen (beispielsweise die ellipsenförmige Bewegung des Mondes um die Erde). Sobald jedoch ein dritter Gravitationskörper hinzukommt (zum Beispiel die Sonne mit ihrer Anziehung auf Erde und Mond), lassen sich die zur Berechnung notwendigen Gleichungen nicht mehr eindeutig lösen. Die Umlaufbahnen können zwar annäherungsweise vorausberechnet werden, aber dennoch tritt bald eine Abweichung ein, so dass langfristige Vorhersagen nicht möglich sind. Daraus folgt auch, dass sich unser Sonnensystem nicht wie ein Uhrwerk verhält. Man kann also nicht genau sagen, ob es tatsächlich stabil ist.
Zurück zu Edward Lorenz: Er machte bei seinen meteorologischen Forschungen also die Entdeckung, dass das Wetter chaotischen Mustern folgt. Diese Ordnungsmuster sind durch „Attraktoren“ (sog. Orte im Phasenraum, die den Endzustand eines dynamischen Prozesses darstellen) charakterisiert, können zwar nicht exakt vorausgesagt, aber sehr wohl bildlich dargestellt und typisiert werden. Sehen wir uns das an.
Stellen Sie sich vor, Sie sähen 20 Männer auf einem Feld herumlaufen. Sie spielen ein seltsames Spiel, aus dem Sie sich keinen Reim machen könnten. Die Spieler würden hin und her laufen, einmal in diese, einmal in eine andere Richtung. Ihr Verhalten sähe nicht sonderlich logisch aus. Erst nach einer gewissen Zeit würden Sie feststellen, dass sich die Spieler auf eine bestimmte Weise auf dem Feld bewegen. Aus den Bewegungen würden Sie logische Schlüsse ziehen, einer der Schlüsse wäre: es muss da etwas geben, das Sie nicht sehen können. Sie könnten auf einen Gegenstand schlussfolgern, den die Spieler sich gegenseitig zuschieben. Ein Ball z.B. hätte die Funktion eines Attraktors. Die Bewegung der Spieler erhält durch diesen Attraktor Sinn.
Kennen Sie das nicht auch? Sie befinden sich in einem Strudel an Ereignissen, mit den verschiedensten Menschen und deren Geschichten zusammengestellt, und Sie sind überfordert. Was – zum Teufel – fragen Sie haareraufend, ist das verbindende Element hinter all dem? Was versteckt sich da? – Sehen Sie: in diesem Moment fragen Sie nach dem unsichtbaren Ball, nach dem Attraktor.
Ein Attraktor ist eine geometrische Struktur im Phasenraum, die alle Endzustände, die ein dynamisches System langfristig annehmen kann, darstellt. Betrachten wir dabei die Entwicklung eines Punktes des Systems im Zeitverlauf, so können wir sie als Linie im Phasenraum darstellen, die man auch als Orbit, Trajektorie oder Phasenportrait des Systems bezeichnet. Verschiedene Startpunkte des Systems beschreiben unterschiedliche Orben, die jedoch gegen einen oder mehrere Endpunkte konvergieren. Die Menge dieser Endpunkte nennt man, abgeleitet aus dem Lateinischen „ad trahere“ (anziehen) Attraktor, da dieser die Orben bzw. das System gewissermaßen wie ein Magnet anzieht. Es gibt verschiedene Arten von Attraktoren.
Punkt-Attraktor: Ein Pendel strebt (wenn es keinen äußeren Antrieb erhält) langfristig dazu, senkrecht über einem Ruhepunkt zum Stillstand zu kommen – dieser Ruhepunkt ist somit der Punkt-Attraktor des Pendels.
Ringförmige Attraktoren: Raubtier-Beute-Zyklen, wie man sie bei Luchsen und Schneehasen oder bei Hechten und Forellen findet, sind ringförmig. Wenn ein solches Raubtier-Beute-System nicht durch besondere Einflüsse gestört wird, strebt es immer wieder dem gleichen zyklischen Muster zu: Sobald die Beutetiere zahlreich sind, finden die Raubtiere viel Nahrung und vermehren sich, so dass die Beutetiere weniger werden. Daraufhin finden die Raubtiere weniger Nahrung und werden ebenfalls weniger, so dass sich die Beutetiere wieder vermehren können und die Raubtiere wieder viel Nahrung finden und so weiter, und so fort.
Grenzzykelattraktor: Ein System folgt einem Grenzzykelattraktor, wenn es eine ähnliche Entwicklung immer wieder durchläuft. Überall in der Natur findet man Systeme mit einem periodischen Verhalten. Rhythmus ist ein Attraktor, der sowohl die Richtung als auch die Geschwindigkeit bestimmt, die ein dynamisches System nimmt. Er ist weder statisches Hin- und Herpendeln noch exakte Wiederholung. Rhythmus ist selbstähnliche Wiederholung. Der Herzschlag, z.B. folgt einem bestimmten Rhythmus. Störungen der normalen Verhältnisse in der Herzschlagdauer können in zwei Richtungen pathologisch sein: 1. Wenn der Herzschlag allzu periodisch wird, kann das zu Herzversagen durch Stauung führen. 2. Wenn der Rhythmus allzu aperiodisch ist, verursacht das Flimmern eines Herzanfalls. Der Rhythmus des Herzens schwankt im Grenzbereich zwischen Ordnung und Chaos.
Seltsamer Attraktor: Vielleicht haben Sie schon einmal einen Bach oder Fluss betrachtet. Sie haben den Bach langsam um einen Stein herumfließen sehen. Bei langsamer Strömung umfließt das Wasser das Hindernis geschmeidig, ohne durcheinander zu geraten. Fließt der Bach nach einem Regenschauer schneller, bilden sich hinter dem Stein kleine turbulente Wirbel, die beständig sind und an Ort und Stelle gurgeln. Bei Schneeschmelze – das Wasser stürzt den Bach hinunter – fließt der Bach jetzt noch schneller. Der Wirbel vergrößert sich und löst sich vom umflossenen Stein. Damit beginnt er jetzt die Strömung des Wassers zu stören. Je wilder die Strömung wird, desto chaotischer der Wirbel: turbulentes Chaos bildet sich rund um den Stein, rund um das Hindernis.
Sie fragen sich an diesem Punkt, was das alles noch mit unserem Alltag zu tun hat? Moment… es fehlen noch einige Elemente.
Selbstorganisation – Wie managen wir das Chaos
Sie ahnen es bereits: Dieser Begriff hat durchaus etwas mit dem alltagssprachlichen Wort bzw. auch mit dem, was Management-Seminare thematisieren, gemeinsam, geht aber in unserem Zusammenhang noch viel weiter. In allen dreien geht es darum, des Chaos „Herr“ zu werden… Selbstorganisation ist nämlich nicht nur, wie ich mich selbst so organisiere, damit mein Alltag funktioniert – sondern eine Eigenschaft eines Systems, eine Systemeigenschaft.
In sozialen Systemen können wir leicht beobachten, wie Ordnung – unabhängig von den Handlungen einer Person, die da organisiert – wie aus sich selbst heraus entsteht. Spontan treten neue, stabile, effizient erscheinende Strukturen und Verhaltensweisen auf. Diese spontane Musterbildung geschieht allerdings nur in offenen Systemen (= ein System, das eine Schnittstelle zur Außenwelt hat).
Ein Beispiel: Insektenstaaten (Bienen, Ameisen, Termiten) sind durch und durch organisierte Superorganismen, ohne eine zentrale Befehlsinstanz. Auch einen Plan gibt es nicht. Eins jedoch ist klar: Kein Tier alleine kann und muss diese Ordnung „überblicken“, und trotzdem ist diese Ordnung vorhanden.
Alle Tiere in diesen Staaten haben jeweils besondere Fähigkeiten, die man durch genaue Beobachtung (ergänzt durch Experimente) herausfinden kann. Jedes Tier in diesem Staat handelt nach lokalen Regeln; die Ordnung entsteht dann aus der Organisation und dem Zusammenwirken der Teile untereinander – „von selbst“. Man kann das in Computerprogrammen simulieren, in denen man entsprechende „Bienchen“ nach solchen Regeln agieren lässt.
Ändert man eine Regel, so kann die Ordnung zusammenbrechen, manchmal entsteht aber auf die gleiche Weise eine neue, andere Ordnung. Niemand gibt Kommandos, niemand gehorcht Befehlen von außen. Jedes Tier handelt nach eigenen inneren Plänen, denen eine gewisse Flexibilität innewohnt.
Selbstorganisation tritt nicht nur in sozialen, sondern in allen natürlichen, physikalischen, biologischen, chemischen oder ökonomischen Systemen auf. In der Philosophie des Aristoteles taucht der Begriff Entelechie auf und könnte durchaus als ein Synonymbegriff für Selbstorganisation gedeutet werden. Entelechie bezeichnet die Form, die sich im Stoff verwirklicht, besonders im Sinne einer dem Organismus innewohnenden Kraft, die ihn – den Stoff – zur Selbstverwirklichung bringt. So gesehen ist ein Individuum, das sein Ziel in sich erreicht hat, ein vollendetes Einzelding, ein Individuum im Vollendungszustand. Der Schmetterling ist die Entelechie der Raupe, da der Schmetterling im Verhältnis zur Raupe die vollendete Gestalt erreicht hat. Das Phänomen der Selbstverwirklichung übertrug Aristoteles auf sein Bild der Natur in ihrer Gesamtheit.
Selbstorganisation in Zusammenhang mit denkenden Computern, die die Menschen erschufen, damit sie ihnen Arbeit abnehmen, weitergedacht, kann nicht nur, sondern wird dazu führen, dass die hochentwickelten und sehr spezialisierten Maschinen dereinst, wenn die Systemkomplexität groß genug ist, sich selbst organisieren werden. Thematisiert und dramatisiert wurde dies ja bereits in verschiedenen Büchern und Filmen.
Wer die Personen waren, die genau diese Prozesse untersucht haben, sei hier unterschlagen. Die „Geburt“ des Brüsselators – und im Verlauf seiner Anwendung gemachte Erkenntnisse – brachte einen wesentlichen Punkt auf den Punkt: Der Brüsselator demonstriert, wie aus Unordnung durch Selbstorganisation Ordnung erwachsen kann. (Schön wäre es, wenn sich unsere Wohnung von alleine aufräumen, und die Wäsche sich von alleine in den Schrank sortieren würde! Wo gibt es den Brüsselator für den Haushalt!)
Weiter im Text: Indem man das Reaktionssystem hinreichend weit vom Gleichgewicht entfernt hält – und das kann man erreichen, indem man ständig neue Ausgangsstoffe hinzufügt – erhält man ein Gemisch, das in regelmäßiger Folge z.B. Farbe oder Form wechselt, nie aber in einem Zustand der Mitte verbleibt. Dahinter steht: Alle Moleküle scheinen in der Lage zu sein, mit allen anderen auch über große Entfernungen zu kommunizieren. Sie wissen quasi, wann sie in die eine und wann in die andere Farbe wechseln müssen und wann wieder zurück. Dieses System ist vollständig unabhängig von den Anfangsbedingungen. Und jetzt übertrage man das auf den Vorgang des Erzeugens von künstlichem Leben!
Als ein Puzzleteil in unserem Verständnis von Chaos stellt die Selbstorganisation eine wichtige Voraussetzung dar – und die Erklärung konnte sicherlich zeigen, dass nichts aus dem Nichts entsteht.
Das chaotische System Mensch
Ohne die Organisation des Lebendigen könnte es weder Bewusstsein noch Kreativität geben, und ebenso gäbe es kein lebendes dissipatives System, wenn nicht der Strom der Entropie seinem allgemein irreversiblen zeitlichen Verlauf folgte. (Arthur Peacocke, God and the New Biology)
Stören Sie sich an dem Wort dissipativ? – Ich auch! Bisher habe ich versucht, es zu vermeiden, aber nun sei es definiert (so kurz es geht): ein dissipatives System befindet sich nicht in einem statischen Gleichgewicht, sondern zeichnet sich dadurch aus, dass in ihm Energie aus der Umwandlung von einem Zustand in einen anderen frei wird. So verstehe ich es, und nehmen wir einen menschlichen Körper als System und als Organisation an, in dem ständig Umwandlungsprozesse Energie erzeugen und verbrauchen.
Eine Organisation aus mehreren Menschen können wir ebenfalls als dissipatives System ansehen; hier wird Energie erzeugt, verwandelt, verbraucht. Menschen tauschen sich aus, wenn sie gemeinsam als Organismus leben.
Nächster Begriff: Entropie. Die Entropie ist eine Eigenschaft von sehr instabilen dynamischen Systemen und ein quantitatives Maß für die Unordnung. Wenn wir einem System, das sich in Ordnung befindet, Energie hinzufügen, vermehrt sich die Entropie, es gerät in Unordnung.
Ein Glas fällt auf den Boden und zerspringt. Der Vorgang ist irreversibel, d.h. nicht rückgängig zu machen, denn die Scherben fügen sich nicht einfach wieder zusammen, um dann als ganzes Glas wieder den Weg zurück auf den Tisch zu finden. Oder nehmen wir ein Parfum. Wird der Duft aus dem Flakon in die Luft oder auf die Haut abgegeben, befindet dieses Gas sich nur kurze Zeit an einer Stelle konzentriert. In Minuten ist es nur noch schwach bis gar nicht mehr wahrzunehmen, weil es sich gleichmäßig zur Entropie strebend verteilt. Die Entropie hat damit zugenommen, das einmal versprühte Parfum kann nicht mehr zurückgeholt werden. Entropie ist recht eigentlich der normale Zustand, denn alle Systeme „anstreben“.
Halten wir außerdem fest: es gibt Unordnungszustände, aus denen sich durch Selbstorganisation neue Muster ergeben. Hier sind Attraktoren und Operatoren am Werk, die das System neu strukturieren und ordnen. Auch, wenn wir es nach außen hin nicht sehen können, geschehen im System selber jederzeit Prozesse, wie gesehen, der Neu-Strukturierung. Wie treffend ist dies doch auch für das System Mensch. Wohnungs- oder Schreibtischordnung sind da die allerniederste Ebene der Schaffung neuer Muster, nicht die höchste, vor allem hinkt der Vergleich, weil diesem Unordnungszustand die Energie von außen zugeführt werden muss, und das ist ein etwas anderer Zusammenhang.
Es gibt Unordnungszustände, die nicht wieder in einen Zustand der Ordnung gebracht werden können. In allen Prozessen gibt es kritische Punkte, an denen sich Organisationsauflösung in Neuordnung wandelt. Der letzte kritische Punkt jedoch ist der, nach dem es nur noch die Unordnung gibt, die man nicht wieder beheben kann. Die Entstehung der Auto-immun-Krankheit Diabetes, z.B. ausgelöst durch eine Virus-Erkrankung beginnt die Körperabwehr die eigenen Zellen als fremd anzusehen. Die betroffenen Zellen können die Zerstörung mit den verbleibenden Zellen lange kompensieren, der Zerstörungsfortschritt bleibt ohne Folgen. Während des Zerstörungsprozesses haben sich die Beta-Zellen in der Bauchspeicheldrüse, die Insulin-Produktion, ja, der ganze Körper mehrfach – für den betreffenden Menschen unbemerkt – im Rahmen ihrer Möglichkeiten umorganisiert. Schließlich aber gelangt das System an besagten kritischen Punkt, an dem die Kompensation nicht mehr reicht: der Organismus bricht zusammen – die Zerstörung ist zu weit voran geschrittenen, und ist irreversibel.
Organisches Leben ist tatsächlich in gewisser Weise auf einem Zeitpfeil von „geordnet“ zu „ungeordnet“ hin zu „Tod“ aufgelegt. Schrödingers Definition ist: Das „Kennzeichen des Lebens“ ist der Widerstand, den es dem Niedergang entgegensetzt – nicht seine Fähigkeit, sich zu reproduzieren, zu wachsen, sich zu entwickeln, sondern dass es in der Lage ist, für eine so lange Zeit “in Bewegung zu bleiben”.
Menschen – ich habe es mehrfach erwähnt – sind Organisationen und damit Systeme, deren Leben aufgrund ihrer biologischen, psychischen oder sozialen Entwicklungslinien ins Chaos gestürzt werden kann. Wenn in der leichten Strömung des Lebens ein Stein, d.h. ein einzelnes Ereignis Attraktor wird und damit ein Hindernis darstellt, wird es zu keinen großen Turbulenzen führen, das Leben findet seine neue Struktur. Er wird nicht ganz der Entropie anheim fallen. Solange ein Mensch lebt, gelten für ihn die gewöhnlichen Gesetze der Physik nicht; er entzieht sich dem Zerfall, er befreit sich von der Entropie, er entzieht sich dem Gleichgewicht mit der Umgebung.
Erst wenn drei oder vier Faktoren dazu kommen – zwei reichen bei Vorhandensein einer Grundkrankheit bereits durchaus – läuft das Leben aus dem Ruder. Unfallschock, Existenzangst durch Arbeitsverlust, psychische Not, eine fremde Umgebung werden zu lebensgefährdenden Attraktoren und können in Tod enden. Erst im Tod, nach “Abschluss” des Sterbeprozesses gelten die Gesetze der Physik, der Entropie: Der Organismus zerfällt, die Organe lösen sich auf, ein thermodynamisches Gleichgewicht entsteht.
„Alles in Ordnung?“ – Wenn Sie das ab heute gefragt werden, werden Sie antworten können: „Nix ist in Ordnung – aber alles ist gut.“
Literaturhinweise:
- Anti-Chaos, Peter Coveney & Roger Highfield, 1992
- Die Selbstorganisation des Universums, Erich Jantsch, 1992
- Die Entdeckung des Chaos, Briggs & Peat, 1990
- Chaos und Ordnung, F. Cramer, 1988
- Vortrag von Dr. Paolo Bavastro (Stuttgart) anlässlich der KAO-Tagung am 01.12.2007 in Bonn zum Thema „Zehn Jahre Transplantationsgesetz – Wie sehen Kritiker von damals die Situation heute?“ ==> http://tinyurl.com/apqd8lm
- Wikipedia (http://de.wikipedia.org/)