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FRAU DOKTORS RUF NACH STILLE

Heute will ich wieder einmal rohrspatzenmäßig etwas loswerden. Es geht um den Lärm in der Welt. Kennen Sie jenes Wetter mit einem Himmel, der sich halbhoch über und um die Häuser legt und Geräusche um ein Vielfaches besser leitet als eine Luft bei sonnigem Wetter? Ich kann das physikalisch nicht erklären, gut so, sonst müssten Sie das jetzt hier lesen. Es gibt auch Wetterlagen, die die Geräusche verschlucken, kurz bevor es zu schneien beginnt, erinnere ich mich, oder wenn Nebel sich über das Land legt. Dann wird es dumpf und still. Heute eben andersherum.

Ich hatte gerade das Radio ausgemacht (das ich meistens laufen habe, um die Geräusche im Haus nicht zu überdeutlich hören zu müssen) ausgeschaltet und atmete durch, weil ich endlich die Stille hörte, als sie anfingen. Erst war es nur einer, dann wurden es drei, die rund ums Haus, auf dem Nachbargrundstück und dann unter einigen Bäumen am Straßenrand Blätter zusammen“püsteten“. Den technisch passenden Begriff für dieses Werkzeug kenne ich nicht. Es funktioniert umgekehrt wie ein Staubsauger: anstatt die Blätter aufzusaugen, werden sie mit einem Luftstrahl von der Quelle fortbewegt. Meistens auf einen größeren Haufen zu, auf dass sie dort dann aufgeschaufelt und auf eine Ladefläche verladen werden. Also, ich nenne das norddeutsch „Püster“, das Wort hat noch andere Bedeutungen – ich meine hier das „Blasrohr“, durch das man Luft pustet. Egal.

Wann immer die Männer vom Stadtgartenamt oder wie das heißt (oder privaten Gartenbauunternehmen) mit ihren Maschinen auftauchen, wird es extrem laut.

Damit Sie einen Eindruck bekommen – falls Sie sie noch nie gehört haben – hier habe ich eine Hör- und Sehprobe:

Die Männer, die bei uns im Ort oder im Ortsteil unterwegs sind, sind nicht nur Straßenreiniger öffentlicher Wege, sondern pusten auch private Rasenflächen ab, oder auch Tiefkeller. Hätte ich das nicht heute zufällig gesehen, als ich lossprang und sämtliche Fenster verriegelte und verrammelte, hätte ich es nicht geglaubt. Es wurden steinversiegelte Flächen abgepustet, die nur spärlich von Blattbefall heimgesucht waren, weil dort keine Bäume, sondern kleine Bäumchen stehen, deren Laub bereits vor einer Woche weggebracht worden war. Der Bediener der Maschine, der mir vorkam wie einer von den Ghostbusters – erinnern Sie sich noch an die? Trugen auch immer so einheitliche Anzüge und dann irgendwelche Schießgeräte auf dem Rücken – hatte einen sehr nervösen Finger, der bewirkte, dass er in sehr unregelmäßigem Rhythmus dem Gerät Signal gab, Luft zu blasen. Er hatte freilich schallschützende Kopfhörer auf, so dass er selbst vermutlich nichts vom Aufheulen und Verstummen seiner Höllenmaschine hörte. Es war schon fast rührend, wie er den blattlosen Boden nach einem unsichtbaren Muster Meter um Meter reinigte.

Ich übertreibe nicht. Nennen Sie mich ruhig neurotisch (was ich in der Tat bin, denn dieser herbstlichen Lärmbelästigung gehen im Frühling und im Sommer elektrische Heckenscheren und Rasenmäher aller möglichen Baumarktreihen voraus). Es hört einfach nicht auf, irgendjemand macht immer Krach. Auch habe ich beobachtet – und diesen Impuls spüre tatsächlich ich auch – dass die meisten Menschen auf Lärm mit Lärm reagieren. Es kann aber auch Schwarmverhalten sein. Also, kaum fängt einer in seinem Garten mit einer lärmenden Tätigkeit an, antworten die anderen drumherum reflexartig mit ebenso lärmbehafteten Tätigkeiten. Dann fangen alle anderen auch an, ihre Rasen zu mähen, oder Hecken zu schneiden, oder es fällt ihnen ein, dass sie schon lange mal irgendetwas reparieren wollten und holen die Schleifmaschine heraus – und los gehts. Unisono bebt dann der gesamte Ortsteil. Ich will aber nun nicht meine Bohrmaschine herausholen, oder anfangen, auf dem Balkon irgendwelche reviermarkierenden Geräuschorgien zu feiern. Ich habe etwas zu schreiben!

Oh, Corona-Zeit, Hohe Zeit. Unsere Nachbarn von unten haben sich in dieser Zeit offenhörlich ein Keyboard oder so was in der Art zugelegt. Ich denke nicht, dass es ein richtiges Klavier oder gar ein Flügel ist. Es wird geübt. Und zwar Hänschen Klein… Sie alle kennen das Lied, nicht wahr? Ist ein wenig einfallslos, aber als Fingerübung vielleicht approbat. Beim dreißigsten Mal und mit Abbruch immer an derselben Stelle allerdings ist für einen unbeteiligten und unfreiwilligen Zuhörer zweifellos eine Schmerzgrenze erreicht. Aus meiner Studenten-WG-Zeit kenne ich das noch von meiner Freundin, die im Nebenzimmer ihre Geigenübungen machte. Wir einigten uns darauf, dass ich in diesen Stunden anderweitig und aushäusig beschäftigt war. Gitarrenübungen, habe ich mir sagen lassen, sind auch nicht viel besser. Man muss schon für die Fehltöne brennen, um sie ertragen zu können.

Worauf wollte ich hinaus? Ach ja, Lärm mit Lärm bekämpfen. Musik also gegen Musik. Als wir noch in Frankfurt wohnten, hatten die Nachbarn über uns eine Phase, in der sehr laut und mit sehr viel Bass Techno-Musik gehört wurde. Hören Sie mal rein… So ungefähr klang das dann:

Es gibt nicht sehr viel, was man dagegen setzen kann, will man sich auch noch in den eigenen vier Wänden verständigen und vielleicht lesen oder einfach auch nur fernsehen. Bei uns kam dennoch des Öfteren eine ganz bestimmte Sinfonie von Dmitri Shostakovitch zum Einsatz. Bei der dabei entstehenden Kakophonie ist das alles keine Freude mehr und eine Fremdbestimmung sowieso. Menschen sind einfach nur laut, will mir immer mehr scheinen. Sie belegen den Raum mit ihren Lautmarkierungen – übrigens auch manche Schuhträger bedienen sich genau dieses Effekts. (In den 90ern hatte ich mal eine Glosse über die Art und Weise der Schuhhackengeräusche, die bestimmte Menschen hervorbringen, geschrieben.)

Ich bin in einem kleinen Ort aufgewachsen, und habe ihn etwa so ab meinem 13. Lebensjahr nur noch schwerlich aushalten können. Die Dörflichkeit brachte soziale Nähe mit sich, jeder Gang durch den Ort wurde garantiert von irgendjemandem registriert und den Eltern zurückgemeldet. Ungefragt. Dass ich keine war, die „auf der Straße“ und draußen mit den anderen Mädchen unterwegs war, sondern zuhause blieb, Musik hörte und lernte oder mich Dingen hingab, die man gemeinhin allein tut, nämlich lesen und schreiben, sorgte für Unverständnis. Es ging natürlich auch damals und auf dem Dorf nicht lautlos zu, nein – Trecker- und anderes Landwirtschaftsgerätsgeräusch auf der Straße, das Klappern und Maschinengetöse aus der Backstube, die mein Vater mit dem laut krächzenden Radio übertönen wollte – ich konnte dem gar nicht entgehen. Ruhe und Stille war erst, wenn alle Arbeit zum Ende kam und alle im Haus sich schlafen legten. Fast schon ein wenig „Walton-mäßig“ – ein Licht nach dem anderen geht aus, bis endlich Stille und Ruhe herrschte.

Kennen Sie diese Stille?  Es gibt sie so richtig eigentlich nur nachts. Sie legt sich auf und in die Ohren, so dass es schon fast schmerzt. Stille – habe ich damals oft gedacht – ist gar nicht so leise. Denn diese im Außen herrschende Stille will ertragen werden. Ach was, die Stille will gar nichts, das ist Mumpitz. Sie ist da. Doch sie ist für viele gefährlich: denn wenn draußen alles schweigt, könnten die Stimmen von innen erwachen und zu sprechen beginnen. Und das werden sie tun, unweigerlich. Das ist wohl vor allem einer der Gründe, warum so viele Menschen Lärm um sich herum verbreiten: sie müssen die inneren Stimmen mit einem äußeren Lärm übertönen. Es ist zu laut in dieser Welt – und das zeigt ihren unheilen Zustand.  

Dazu schließe ich – weil heute irgendwie mein japanischer Tag ist – mit einem Haiku.

Ein uralter Weiher
Vom Sprung eines Frosches
Ein kleiner Laut
Bashô (1643 – 1694), eigentlich Matsuo Munefusa, japanischer Dichter

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