Gender-Pay-Gap und Victim Blaming
oder doch vielleicht
Auf der Suche nach der verlorenen Selbsterkenntnis
„Das Gute – dieser Satz steht fest –
Ist stets das Böse, was man läßt!“
Wilhelm Busch
Nein, nein, ich werde an dieser Stelle nicht über das Thema hinter diesen beiden englischen Wortkombinationen schreiben. Hab sie in einem Artikel gelesen, den ich ziemlich bald zur Seite legte. Zuviel zeitnah nachhaltig vor Ort Formuliertes. Über die zweifelsohne vorhandenen Missstände lasse ich mich nicht aus, da kann ich nur Fehler machen und werde in der besseren der beiden Welten missverstanden. Ich werde auch nichts zu Feministinnen, Sexistinnen oder Emanzen schreiben; avenidas und flores lasse ich gründlich links liegen, desgleichen den Präsidenten des mächtigsten Landes der Welt (also des gewesenen mächtigsten Landes) oder andere auffällig gewordene Personen der Öffentlichkeit. Ich bin doch nicht 60 geworden, um mich immer noch über Sachverhalte und Zustände zu echauffieren, die ich längst hinter mir gelassen habe.
Dieses post-post-modern-aktuelle Feld überlasse ich – sobald ich meine nichtigen Gedanken zum Ausgraben und Umschreiben von Geschichten, zur nachträglichen Anwendung von Moralität und zum Auslöschen von Existenzen bei gleichzeitiger Heraufbeschwörung vergangener Katastrophen hier niedergelegt habe – dann wieder jenen, die mittendrin stecken. Um die auszulöschenden Existenzen (und auch das Wort „bereinigen“ fällt da hin und wieder), ist es vielleicht sogar nicht einmal schade. Wer existiert hat, hat möglicherweise nicht zwangsläufig auch gelebt?
Mit Entsetzen – und das ist der Punkt, um den es mir geht – nehme ich indes wahr, dass ich mich irgendwie (muss ja wohl) entwickelt und meinen eigenen Umgang mit den Themen und der Welt gefunden habe (wenn auch längst noch nicht in der Abschlussklasse!), die überwiegende Mehrheit unserer Gesellschaft offensichtlich aber nicht. Werfen Sie mir Arroganz vor. Wenig hat sich in den letzten Dekaden wesentlich nach vorne im Sinne einer Verbesserung bewegt. Die Bewegung ist zu meinem Bedauern – das ist meine zweite größere „Emotion“ in diesem Zusammenhang – sogar eher rückwärts gewandt.
Schreiben muss ich trotzdem etwas! Wenden Sie sich kurz mit mir gemeinsam rückwärts! Neulich sind mir Aufsätze oder Gedankenschnipsel von mir selbst in die Hand gefallen. Sie lagen zuunterst in einer der bereits in anderem Zusammenhang erwähnten Kisten mit alten Unterlagen. Es waren schreibmaschinengetippte Sachen dabei: „Was ist Emanzipation?“, „Von der Unsinnigkeit von Theorien“, „Alexander 3“ – eine Fiktion über die Entfremdung unter den Menschen etwa im Jahre 2025 – und eine Rezension zu einem Buch mit dem Titel „Von der Nutzlosigkeit, erwachsen zu werden“. Einigermaßen gut geschrieben.
Zwischen den Aufsätzen fanden sich weitere Texte, die für einen einzigen Zweck geschrieben waren, nämlich den, sie meinem Professor an der Universität vorzulegen. Er hatte mich darum gebeten, wollte sie lesen. Die Texte sind handschriftlich – damals liebte ich es, mit einem Füller und mit lilafarbener Tinte zu schreiben – auf liniertem Heftpapier erhalten; darin ging es um Sprachvergleiche und Unterschiede zwischen Sprachen, z.B. die Vorsilben im Deutschen, Finnischen und Ungarischen. Über die Transformationsgrammatik habe ich mich ausgelassen… und die Soziolinguistik…
Doch über diese meine alten Texte will ich ebenso wenig wie über die Gender-Debatte schreiben. – Mir ist allerdings in derselben Woche ein Buch zugefallen. Es ist von einem Historiker geschrieben, kein Roman und behandelt der Deutschen Lieblingsthema, nämlich die Zeit zwischen 1933 und 1945. Auf mehreren Seiten taucht der Name meines oben erwähnten Professors auf. Ja, er hat in den zwei Jahren von 1942 bis 1944, als der Krieg so richtig Fahrt aufnahm, in Göttingen muslimische Wehrmacht-Angehörige zu Imamen ausgebildet, damit auch ihren glaubensverwandten Soldaten religiöser Beistand gewährleistet werden konnte. Der englische Historiker hat die Verbindung von Nazi-Deutschland zum Islam und zur islamischen Welt (was mir einige neue Erkenntnisse brachte, die mit der aktuellen Lage zu tun haben) akribisch recherchiert und dafür viele Quellen sprich über viele Länder verteilte Archive aufgesucht. Er hat eine Arbeitsfrage formuliert: Warum haben die Deutschen diese seltsame Affinität zu Regierungsformen im weitesten Sinne, die früher oder später in ein Extrem laufen, und in denen das Reine und „Pure“ und dessen Einhaltung einen höheren Stellenwert einnehmen als die krummen und buckligen Lebensentwürfe von Menschen in ihrem Erdendasein auf Zeit. Mit diesen Worten hat er es nicht gesagt… suchen Sie es also nicht im Internet, da steht es nicht (habe es eben selbst versucht) – sind meine Worte.
Eine Antwort fand ich bei diesem Historiker nicht, aber wie es so kommt – mir lag noch ein zweites Buch zur Seite und aus diesem fand mich ein Puzzleteil. Ebenfalls von einem Briten, Kunsthistoriker und Journalist. Er hat sich über den deutschen Genius Gedanken gemacht, und das auf fast 900 Seiten. Ich bin noch nicht ganz durch, doch meine Antwort auf obige Frage habe ich bereits. Wussten Sie, dass die Briten ein sehr politisches Volk sind? Die Deutschen – so schreibt der Journalist – jedenfalls seien alles andere als politisch, sondern nachgerade apolitisch. Die Russen – um die Gedankenkette zu komplettieren – stuft er als antipolitisch ein. Schreibe darüber später noch etwas, denn diese Einschätzung (die möglicherweise auf eine noch andere Quelle zurückgeht) fällt insbesondere in die Unterscheidung zwischen dem englischen culture und der deutschen Kultur. Deutschland sei da auf einem ziemlichen Sonderweg (the German Sonderweg) unterwegs, schreibt Watson.
Es liegt noch ein drittes Buch hier. Ganz frisch erschienen. Es hat ebenfalls mit der Deutschen Lieblingszeit zu tun, und auch mit einer Aufdeckung (ja, haben wir denn Aufdeckungszeit?) und Löschung. Darin geht es um eine Frankfurter Institution, die im vergangenen Jahr 200-jähriges Bestehen feierte, und deren Direktor in der Zeit zwischen 1933 und 1945 in ein persönliches Dilemma geriet. In seiner tragischen Not entschied er sich dafür, die Geschichte – in Form der Sitzungs- und anderer Protokolle schönzuschreiben. Sie ahnen es bereits: es geht um das Verhältnis der Nazis zu den jüdischen Mäzenen der Institution.
Die (eigene) Geschichte – und ich kürze ab und komme wieder in die Gegenwart zurück – holt uns früher oder später ein. Stichwort Selbstkenntnis und Selbsterkenntnis. Wer sind wir?
„Selbsterkenntnis liegt in Selbstvergessenheit verborgen. Wer sich also nicht zu vergessen weiß, bleibt in verzweifelter Suche nach sich selbst gefangen. Und auch das Über-sich-selbst-hinaus gelingt nur im Vergessen von allen Attributen des Eigenen.“ Adrian Wellmann schrieb das, nicht ich. Als ich ihn zitierte, antwortete jemand, dem das wohl keine Ruhe ließ: „Es gibt erheblich mehr Selbsttäuschung als Selbsterkenntnis in uns! Wir haben keinen direkten Zugang zu uns selbst!“
Doch, es gibt Selbsterkenntnis – und natürlich auch Selbsttäuschung. Dies in verschiedenen Graden und Ausprägungen bei den verschiedenen Menschen. Die in Wellmanns Zitat erwähnte Selbstvergessenheit ist übrigens die, die wir bei Kindern beobachten können. Sie sind im Spiel vertieft, sind ganz bei sich. Erwachsene können diese Momente ebenfalls erleben. Wenn sie aufhören zu wollen, wenn sie etwas ohne Zweck und Absicht tun – sind sie sich selbst sehr nahe. Man muss auch vergessen dürfen. Nun ist Selbstvergessenheit nicht das Vergessen an sich, aber soll mir als Überleitung dienen.
Eine erinnerungslose Menschheit ohne Geschichte und Fortgang ist eine, die sich von einem Augenblick auf den anderen stürzt und nicht in der Lage ist, diese Augenblicke miteinander zu verbinden.
Eine Menschheit ohne Fähigkeit zu vergessen, ist eine ohne Struktur und ohne Erkenntnis, Bedeutsames von Unbedeutsamem zu unterscheiden.
Aber wie bin ich denn bloß vom gender-pay gap und dem victim blaming über muslimische Wehrmachtssoldaten und einen tragischen Museumsdirektor zur Selbsterkenntnis gekommen? Ist das dieser deutsche Sonderweg? Dieses deutsche Bauchnabelbeschauen und die Lust daran, zu büßen, indem schonungslos aufgedeckt und dies auch kommuniziert wird? („Auch wenn man miteinander kommuniziert, bleibt jeder Mensch ein abgründiges Rätsel“ – hat mir ein anderer Leser geschrieben.) Ach, jetzt fällt es mir wieder ein: Wer Rätsel aufdeckt, schaut eben bisweilen schon mal in Abgründe. Diese Abgründe sind mit einem moralischen Radiergummi nicht zu tilgen; setzt man ihn dennoch ein, passiert Skurriles, das zu Gefährlichem wird. Männern verbieten zu wollen, Frauen anzuschauen, oder eine saubere und korrekte (ins Englische exportierte) Sprache einzuführen, die allen gerecht wird, und keinen mehr vom anderen unterscheidet (stattdessen die Sprecher verstummen und verblöden lässt) – sind vielleicht sogar gut gemeinte, hilflose Versuche, Ungerechtigkeit zu vermeiden. Die weiter fortschreitende Gleichschaltung und Ahndung jedweder Nichteinhaltung und die dritte und vierte Aufdeckung von Verbrechen aus der Geschichte verhindern allerdings die Gegenwart.
Erst das Vergessen ermöglicht das Erinnern und: es ist das Vergessen, das eine Vergangenheit möglich macht. Wenn ich Martin Heidegger einmal hinzuziehen darf… – Der German Sonderweg besteht darin und beharrt vermutlich auf der Wachhaltung der Erinnerung mit aller Macht. Der Sonderweg hat auch im 21. Jahrhundert seine Erfüllungsgehilfen gefunden. Die ihn beschreiten dürfen das Geschehene nicht vergessen, vor allem das Schlechteste aller Geschehen nicht. Was für ein Menschenbild zeigt das!? Und was macht es mit den Deutschen und ihrer Zukunft?
Die Bücher:
- The German Genius: Europe’s Third Renaissance, the Second Scientific Revolution, and the Twentieth Century, Peter Watson
- Das Senckenberg-Forschungsmuseum im Nationalsozialismus: Wahrheit und Dichtung, Andreas Hansert
- Für Prophet und Führer: Die islamische Welt und das Dritte Reich, David Motadel