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ZWISCHENZEITLICH XXVII

DER FÄHRMANN

Komm, sagt er
und winkt dich ins Boot.
Unangemeldet steht er da,
aus dem Nichts aufgetaucht,
und du bist noch nicht bereit.
Jetzt schon? Fragst du
zaudernd.

Zu früh ist’s,
der Tag noch nicht vorbei.
Da fällt das Gehen schwer.
Ja, sagt er sanft, jetzt
und aus blinden Augenlöchern
blinkt seine Unnachgiebigkeit,
ohne Hast hat er
es doch eilig.

Noch nicht, setzt du dagegen,
zu Vieles ist noch nicht getan,
zu Vieles braucht noch meine Hand,
die kann ich dir jetzt
noch nicht geben.
Die Zeit ist indes um, bleibt er hart,
und seine Hand greift
nach der deinen,
sein Boot im Wasser schwankend,
das Wasser leckt am Land.

Nur fünf Minuten, bettelst du,
doch langsam begreifst auch
du die Unausweichlichkeit,
nur fünf Minuten wenigstens
für all die Sünden!
Er lacht, und seine
Augen bleiben kalt.
Sünden, sag mir,
was sind Sünden?
Ja, Sünden – jene Fehler,
die ich gemacht.

Deine Stimme wird klein,
dein Herz schlägt laut.
Wird er die Antwort akzeptiern?
Er rückt nah und näher,
nur wenig trennt dich jetzt von ihm,
doch kein Atem streift dein Gesicht,
kein Ton erreicht dein Ohr,
auch wenn er zu dir spricht.

Sünde, mein Freund,
sagt er, ist,
was du hast ausgelassen
als die Stunde war,
das Erforderliche zu tun.
Sünde, mein Freund,
und sein Finger durchsticht
weiß-dunstige Luft,
ist, daß du nicht das gemacht
aus dir, was du bist!
Sünde, mein Freund,
sagt er, ist nicht, was man hat recht
und schlecht getan,
nicht, was Schuld man so
oft auch nennen hört.

Und es durchfährt dich wie
ein Blitz, vorbei, auf immer,
der Moment: die Gegenwart
von jetzt – Vergangenheit im nächsten Augenblick.
Nicht jetzt getan –
nie mehr möglich von heut an?
Er hebt die Schultern,
ein dunkler Mund klafft,
er bleibt die Antwort schuldig.

Komm, sagt er wieder,
deine Zeit ist um,
du hast alle Wahlmöglichkeiten
ausgeschöpft,
es ist Zeit zu gehen nun.
Warte, und das ist dein letzter Zug –
das Gehen ist zu schwer,
du suchst nach deiner
allerletzten Karte,
die Gnade dir verheißt.
Lautloses Lachen gefriert
in der Luft zwischen euch.

Genug des kriecherischen Verhandelns –
es gab und gibt nun kein Zurück.
Vorläufig, flehst du weiter,
wider besseren Wissens,
dein Herz schon eingefalln,
vorläufig, vielleicht gibt
es Aufschub…
Alles im Leben, murmelt er,
ist vorläufig,
aber dies hier,
glaube mir, ist endgültig!

Es ist besser, du findest dich ab.
Deine Kraft schwindet,
der Tag dunkelt schnell,
das Licht schon unterm Horizont, da reichst du ihm die Hände.
Ich komme, sagst du
und es ist gut.
Gehst ohne Kampf mit ihm,
der dich nunmehr hinübersetzt,
an jenes andere Ufer.

 

(c) 1998

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