Wir erinnern uns kurz: Ein Müller hat eine Tochter, von der er vorm König sagt, sie könne aus Stroh Gold spinnen. Die Exposition ist hier der „arme Müller“ mit einer schönen Tochter, die er nur zu gerne mit dem König verheiraten möchte (natürlich um seiner Armut zu entgehen). Eine vorgestellte und angebahnte Eheschließung zum Zwecke der Aufwertung des eigenen Standes, unter Opferung eines (verschmerzbaren?) Teils von sich. Der König wiederum ist irgendwie auch bedürftig – er kann von Gold nicht genug bekommen. Gold – das nicht gehabte Erlebnis, der Pluto, der die Sonne verdunkelt und in seinem tiefirdenen Glanz die Gier nach mehr erweckt. Sobald Leben nicht mehr in den Grenzen des Daseins waltet, muss es in Vorgängen auftauchen, und diese müssen wiederholt werden.
So also auch bei der Tochter des Müllers, die gar kein Gold spinnen konnte. Der Vater hatte sie unter falschen Voraussetzungen ins Schloß gelotst, und nun saß sie vor einem Berg Stroh. Sie konnte aber nichts damit anfangen. Was für eine Täuschung. Sie befand sich nun in einem großen Zwang – dem Vater verpflichtet, der Aufgabe verpflichtet. Wie sollte sie da herauskommen? In solchen Momenten treten Versuchungen in Erscheinung. Sie müssen nicht schön aussehen, meistens sind sie sogar ausnehmend verbuckelt und unsympathisch, aber sie versprechen für eine kleine Gegenleistung Hilfe.
Rumpelstilzchen trat also auf den Plan und half der Müllerstochter gegen einen Halsreif, die Kammer voller Stroh in eine Kammer voller Gold zu verwandeln. Den König freute das natürlich am nächsten Tag. Und da er sich trotz seines Königsseins nicht annähernd ritterlich verhielt, führte er die Müllerstochter gleich in eine nächste Kammer und verlangte von ihr, auch das hier gelagerte Stroh in Gold zu verwandeln. Übrigens unter Strafandrohung. Dieses Mal ahnte die Müllerstochter vermutlich schon, dass es ihre Tränen waren, die die Versuchung riefen – und so weinte sie – und so kam Rumpelstilzchen nochmals zur Hilfe. Es bekam den Ring der Müllerstochter und sie die Kammer voller Gold für den König. Sie behielt ihr Leben.
Am dritten Tag versprach ihr der unersättliche König endlich, dass er sie heiraten werde, wenn sie für ihn noch einmal Stroh zu Gold spinnen würde. Die Aussicht, eine Frau zu heiraten, die je nach seinem Belieben Stroh zu Gold machen konnte – da konnte er nicht widerstehen. Müller und König – beide Materialisten, die äußeren Reichtum dem inneren vorzogen – vermutlich den inneren nicht einmal kannten. Rumpelstilzchen, dessen Name bis jetzt noch nicht gefallen war, kam ein drittes Mal. Aber die Müllerstochter hatte nichts mehr, was sie ihm geben konnte, außer: ihr (noch) ungeborenes Kind. Sie tat es ihrem Vater gleich und verkaufte ihr Leben sowie das ihres Kindes.
Der König feierte Hochzeit mit ihr. Und wie das so ist mit Vorgängen, die einen schalen Geschmack hinterlassen: man erinnert sich nicht gern an sie. Man vergisst, und so vergaß die Königin, die das Müllersmädchen jetzt war, ihr Versprechen an den kauzigen, hässlichen kleinen Geist, der ihr geholfen hatte, Stroh zu Gold zu machen. Der Helfer aber, der Handlanger für das Böse, vergaß – und vergisst auch heute noch – nichts. Kaum war das erste Kind geboren, fand er sich bei der Königin ein und verlangte seinen noch ausstehenden Lohn. Sie wird tief erschrocken gewesen sein! Es ist ein Schock, wenn der Zahltag ansteht, und man für erhaltene Wohltaten nun den Preis bezahlen soll. Manchmal bringen Menschen den Einforderer des Preises noch nicht einmal mehr mit einem entsprechenden Dienst in Verbindung – so gründlich arbeitet das Vergessen.
Die Königin jedenfalls verhandelte. Sie wollte dem Männlein alles mögliche aus dem Königreich geben, nur eben das Kind nicht. Der Einforderer indes wollte, was man ihm versprochen hatte: echtes Leben, frisches, unverbrauchtes Leben. Denn das bedeutet „Energie“: die Vorstellungen der Gierigen, derer, die auf einem Berg von ungelebtem Leben sitzen, brauchen Energie von anderen – und das goldspinnende Männlein lebte natürlich ebenfalls von dieser Energie. Katzen, heißt es (vielleicht zu Unrecht), spielten gerne noch mit ihrer Beute, bevor sie sie töten. Der kleine Quälgeist jedenfalls ließ sich auf eine Chance für die Königin ein. Wenn sie es schaffte, innerhalb von drei Tagen seinen Namen herauszubekommen, sollte ihr Kind frei sein. Nun setzte die Königin alles in Bewegung, um in ihrem Königreich Namen zu finden. Die erste Nacht verstrich – sie konnte dem Männchen nichts liefern. Die zweite Nacht verstrich, wieder war der richtige Name nicht dabei. Dann aber ergab sich, dass einer ihrer Boten in einem sehr abgelegenen Wald Seltsames beobachtete. Der Bote, ein Kundschafter eigentlich, der ausgeschickt wird, um Unbekanntes oder Verheimlichtes aufzudecken, wurde Zeuge eines archetypischen Rituals. Feuer darf bei solchen Ritualen nicht fehlen, und das Einbeinige, das darum herum tanzt. Und dieses Einbeinige sang seinen inzwischen uns allen bekannten Spruch.
Heute back ich, morgen brau ich,
übermorgen hol ich mir das Kind der Königin –
ach, wie gut, dass niemand weiß,
dass ich Rumpelstilzchen heiß!„
Wir kennen den Rest: die Königin, von ihrem Boten in Kenntnis gesetzt, erwartete das Männlein schon ungeduldig, als es am dritten Abend ankam, und konfrontierte es mit seinem Namen. Wenn man verheimlichte, unliebsame Dinge – und auch betrügerische, lügenhafte Menschen – bei ihrem Namen benennt, verlieren sie ihre Macht. Die verpufft. Das Böse hat keine Gewalt mehr über einen, denn jetzt ist es heraus, und das, was nicht dem Wirklichen und dem Wahren entspricht, und ins Licht gehoben wird, zerfällt zu Staub, oder noch Schlimmerem. Im Zerfallen soll Rumpelstilzchen noch gesagt haben, dass es wohl der Teufel gewesen sei, der ihr den Namen verraten habe. Darauf komme ich gleich noch zurück.
Also, Rumpelstilzchen ist tot. Doch halt – die Geschichte hat eine Fortsetzung. Das Manko vieler Märchen ist ja, dass sie dort enden, wo sich das Problem in Wohlgefallen auflöst. Das ist das mit dem „Und sie lebten glücklich…“.
Was aus jenem Boten geworden ist, den die Königin ausgeschickt hatte, wird nicht weiter erzählt. Wir können davon ausgehen, dass er ebenso wie der Königin Vater und auch der König selbst, Teile ihrer eigenen Person waren. Auch das Rumpelstilzchen – Schatten ihrer Seele, der verführbare Anteil in jedem von uns – viele, die wir sind. Der Teufel – das ist das entscheidende Detail – ist immer noch in der Welt, und er ist vollzeitbeschäftigt. Mir will scheinen, dass er, den wir weder als Protagonisten noch als Antagonisten in diesem Märchen gesehen haben, für sein Weiterbestehen gelernt hat. Er hat sich fortgebildet. Das einmalige Ereignis des Aufdeckens, das mit der Benennung des Bösen dieses nichtet, hat er sich mit einem Kniff, wie es sich in der Welt halten kann, zunutze gemacht: Er hat Rumpelstilzchen vervielfältigt, hier und da ein wenig abgewandelt, diversifiziert, und die Kommunikation der kleinen Handlanger untereinander vervollkommnet.
Die Rumpelstilzchen sind in der Welt verteilt, sie sind überall, und überall wachsen sie dort besonders gut, wo ihr Name gerufen wird. Inzwischen ist die Aufdeckung zum Vorgang geworden. Mehr noch. Das Böse hat seine eigene Aufdeckung übernommen – ist das nicht genial? Und es gibt noch eine weitere Einsicht: Je mehr von den Dingen in der Welt gesprochen, sie „angerufen“ und „beschworen“ werden, desto mehr besetzen sie das Bewusstsein. Das ist im Guten so wie im Schlechten. Leider ist es dann so, dass die realen Dinge, Eigenschaften, Menschen, Lebewesen und meinetwegen auch Werte, die man da beschwört, verblassen und vergehen. Je höher und lauter, je erhabener der Ruf nach dem, was sei, desto verkümmerter der letzte Rest davon in unserem Dasein. Und da es so ist, dass immer das beschworen wird, das „gut“ und „richtig“ sein soll, entfernt sich das immer mehr.
Aber Rumpelstilzchen ist tot – oder lebt es?