Home » LESESTOFF » ZWISCHENZEITLICH XXXV

ZWISCHENZEITLICH XXXV

Oder so in der Größenordnung. … Seit drei Tagen tummeln sich in meinem etwas tagesbewussteren Unterbewusstsein unterschiedliche Gestalten. Liegt es am September, der mich empfindsamer dafür werden lässt, weil meine eigene Niederkunft sich jährt? Ich suche ja diese Inhalte nicht mit Absicht, sondern ich lasse mich finden – und sie tun es dann auch. Also, vorgestern, am 4.9., kam ich auf den Todestag eines Dirigenten (Sir Georg Solti) am 5.9.1997, der eine Symphonie dirigierte, die wiederum einer komponiert hatte, dessen  Geburtstag auf den 4.9. fiel. Die Symphonie Nr. 3 d-Moll von Anton Bruckner ist Richard Wagner gewidmet, was es der Akzeptanz der Sinfonie nicht gerade erleichterte. Bruckner verehrte Richard Wagner und buhlte zu dessen Lebzeiten um seine Gunst. (Geschrieben habe ich darüber und über Anton Bruckner in diesem Aufsatz.)

Bruckner polarisierte zeitlebens: er galt als göttlich begnadet oder als schrulliger Gigantomane. Er wurde angefeindet und musste viele Niederlagen, Abweisungen und Misserfolge erleben; daneben gab es strahlende Triumphe. Zu schreiben begonnen hatte Bruckner 1872 und vollendete das Werk 1873; erst 1890 aber kam es zu einer erfolgreichen Uraufführung. Zuvor hatte Bruckner wegen der dreimaligen Ablehnung durch die Wiener Philharmoniker die Sinfonie mehrmals überarbeitet. – Diese Überarbeitungen ziehen sich übrigens durch Bruckners Schaffen – oft hat er Änderungen an seinen Werken anbringen müssen, bis sie angenommen wurden, er selber auch verunsichert, ständig korrigiert.

Wie oder Wer ist eine Jungfrau vom 4. und 5.9.? – Ich befrage die „Horoskope für jeden Tag“:

04 und 05. September

Meist ist die erste Kindheit geprägt von strenger Ordentlichkeit und (beengender) Geschlossenheit der Familie. So entwickelt sich auf harmonischer Basis ein sensibles, fast lyrisches Gemüt, das auch im späteren Verhalten auf eine Geschlossenheit der Erlebensform angewiesen ist. Dadurch wird verständlich, dass ein unruhiges und irritierbares Zentralgefühl Beunruhigungen durch die Umwelt leicht anheimfällt. Damit ist der typische Drang der „Jungfrau“, sich „der Umwelt zu versichern“, bei Ihnen besonders stark ausgeprägt. Im Sinn des bewussten Erfassens von Vorgängen und im Sinn des „Ausleuchtens“ entwickeln sich besondere Eigenschaften des Untersuchens (methodisch), des Beobachtens (kritisch) und des Artikulierens (deutlich).

So ergeben sich hervorragende berufliche Qualifikationen. Im Gefühlsleben jedoch entsteht leicht eine zu starke Beeindruckbarkeit, neben Phasen der Bedrohungsangst, wie eine „Witterung“ für Instabiles. Schutz für das sensible Gemüt wird deshalb in sicherer Geschlossenheit bzw. einem geordneten Verhältnis zum Schicksal (Jenseits) gesucht, besonders bei den künstlerischen Vertretern Ihres Geburtstages. – Kennzeichen: Unberechenbares berechenbar machen.

[Wolfgang Döbereiner: Horoskop für jeden Tag]

In seiner 3. Symphonie verwirklichte Bruckner ein neuartiges sinfonisches Konzept. Er ersetzte – so heißt es in Werkseinführungen – die Verarbeitung musikalischer Motive durch blockhafte Aneinanderreihung von Motiv-Varianten. Die Zuhörer, dessen ungewohnt, verstörte das nicht schlecht. Auch die religiöse Aura der klanggewaltigen Sinfonien Bruckners  („Messen ohne Text“) mit übermäßiger Länge erforderten neue Hörgewohnheiten.

Die Urversion dieser 3. repräsentiert – wie alle Urfassungen in der Regel – die ungebändigte Großform. Die später angebrachten Umarbeitungen sind thematisch konzentrierter und stilistisch angepasster – gebändigt eben. Bruckner selbst bezeichnete seine Revisionen stets als Verbesserungen. Im Falle der 3. kam die 3. Fassung tatsächlich zur Aufführung. Sie beginnt geheimnisvoll, von entscheidender Bedeutung ist das fanfarenartige Trompetenthema. Lässt mich an „den Einzug von Gladiatoren“ denken, hier sind die Gladiatoren allerdings ein wenig angeschlagen und kommen in Moll daher. Im Adagio (dem 2. Satz) zitiert Bruckner erkennbar für Wagner-Freunde das Sehnsuchtsmotiv aus „Tristan und Isolde“. Wer Wagner nicht kennt – naja, an dem geht natürlich das Zitat vorbei. Einen Gegensatz dazu bildet die Ausgelassenheit des Scherzos (3. Satz) mit einem oberösterreichischen Bauerntanz. Im 4. Satz sind eine Tanzmelodie (Polka) mit einem Bläserchoral vereint: eine Polka nimmt grundsätzlich den Humor und Frohsinn in der Welt auf, spiegelt diese wider – der Choral, den Bruckner dazu setzt, bringt das Traurige, Schmerzliche in ihr zum Klingen. Die Trompeten vom Anfang – da noch in Moll – beenden die Sinfonie in Dur: siegreich und mit einem Verstummen vor der Schlusssteigerung als Verneigung vor der geläuterten Wiederkehr. Bruckner war ein Zeitkreis-Komponist.

Gestern nun zwei weitere Geburtstage. Dieter Hallervorden und Werner Herzog. Beide sind immer noch aktiv und alles andere als stromlinienförmig, sondern Menschen mit Ecken und Kanten. Herzog hatte ich überhaupt nicht auf dem „Bildschirm“, bis mir dann eine Stimme einflüsterte, ich sollte den Fernseher anschalten. Da lief nämlich der Film Fitzcarraldo aus dem Jahr 1982. Nebennotiz: Mitte der achtziger Jahre wandte sich Werner Herzog der Oper zu und debütierte 1985 mit der Inszenierung von Ferruccio Busonis Doktor Faust in Bologna. Bekannt wurde er durch Aufführungen von Wagner-Opern (insbesondere Lohengrin) bei den Bayreuther Festspielen im Jahr 1987 und Beethovens Fidelio an der Mailänder Scala.

Ich muss keine Werbung für sein in diesem Jahr (22.8.) erschienenes Buch machen, aber hier der Klappentext, eben weil mir der Titel so gefällt: Jeder für sich und Gott gegen alle.

Werner Herzogs lang erwartete Erinnerungen erzählen ein Jahrhundertleben, wie es nicht einmal in einen seiner eigenen berühmten Filme passen würde. Ein immerzu hungriger Junge, mit der Mutter aus dem bombardierten München in ein bitterarmes Nest in den Alpen geflohen. Ein Jugendlicher, der ganz allein lostrampt und bald darauf im hintersten Ägypten im Fieberwahn auf den Tod wartet. Ein Liebender, ein Enthusiast, ein Getriebener: Ein Mann, der mitten im Dschungel leise auf den tobenden Klaus Kinski einredet, ein Mann, der weinend um seinen Freund Bruce Chatwin an dessen Sterbebett sitzt. Wüst und sanft, voller Lebensgier und Staunen über unsere Welt ist dieses Buch ein literarisches Ereignis. (Quelle)

Der 5. September – ich erwähne es, weil wir gestern damit beschallt wurden – 1972: Es ereignete sich dazumal eine denkwürdige Geiselnahme. Nein, sie ereignete sich ja nicht, sondern sie wurde sichtbarer Ring eines ins Wasser geworfenen Steines. Es geht mir um den Charakter dieser beiden Geburtstage: 4. und 5. September. Auch ein Ereignis hat eben einen Charakter – und dieses mit der Verhaltensanlage – wie Wolfgang Döbereiner schrieb – der Berechenbarmachung des Unberechenbaren. Die witternde Jungfrau hält ihre Nase in den Wind und erschnuppert Instabilität, Veränderliches und Gefahr. Man kann vieles hin- und herdeuten, was diesen Tag und die Zufälligkeit des Ereignisses angeht – alles in allem kann man sagen: die Witterung der Jungfrau wurde erst nicht ernst genommen, dann ausgeschlossen. Ersetzt wurde die vernünftige Schutzmaßnahme der Jungfrau (die dem Leben und dessen Erhalt gilt) durch ein Modell des Empfindens, das mitten ins Gemeinschaftliche gepflanzt einen Zwang erzeugte. Dieser Zwang erzeugte seinerseits ein ihm entsprechendes Ereignis (dem Bösen sind bisweilen die Protagonisten, die es sich als Handlanger heranzieht, zwar nicht egal – aber es gibt beliebig viele, die sich anbieten). Zu viel gewollt, zu weit hinausgerudert.

Wolfgang Döbereiner schrieb mir einmal in einer Antwort auf einen Brief, in dem es um Anton Bruckner ging: Bruckner hatte wenigstens noch Trompeten und Fanfaren, Sie (heißt: Ihre Generation) hat die nicht mehr. Fitzcarraldos (zur Erinnerung: Er möchte ein Opernhaus im Amazonas-Dschungel errichten und dazu Enrico Caruso einladen) Ende ist episch: Er schafft es zwar, sein Schiff (gekauft, um in den Kautschukhandel zwecks Geldbeschaffung einzusteigen) mit Hilfe der Eingeborenen über den Bergrücken auf die andere Seite und in den Parallelfluss zu verbringen, doch Erfolg ist ihm nicht gegönnt. Sein Schiff wird von den Eingeborenen der Bedeutung zugeführt, die sie ihm gegeben hatten, das später manövrierunfähige Schiff treibt durch die Stromschnellen. Dazu ist vom Grammofon das Sextett aus der Oper Lucia di Lammermoor von Gaetano Donizetti („Wer vermag, den Zorn zu hemmen“) zu hören. Das Schiff wird seiner angedachten Bestimmung nicht zugeführt werden. Fitzgerald/Fitzcarraldo erfüllt sich dennoch seinen Traum vom Opernhaus: Auf dem Schiffsdeck kommt es zu einer einzigen Aufführung, die er als eine Traumverwirklichung vor dem Hintergrund seines Scheiterns im Großen begreift.

Der große Traum zerplatzt, viele Anstrengungen unternommen, mit Trompeten gestartet, und am Ende ist es doch so etwas wie ein Triumph auf einem demolierten Schiff. Wer nicht von seinen Erwartungen und Vorstellungen herunterkommt, wird gebrochen werden – wer auf die Umstände horcht und Vorkehrungen entsprechend anpasst, wird belohnt. – Im Rahmen des Möglichen und Vorgesehenen.

(Visited 48 times, 1 visits today, 66.868 overall counts across all posts)