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BITTE ZÄHME MICH

Der kleine Prinz, Antoine de Saint-Exupéry

Aus dem Kapitel XXI des Buches „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry (1900-1944)

Zähmung

Für den, den du gezähmt hast, bist du verantwortlich, könnte die Zusammenfassung eines Kapitels und eine Einsicht des „Kleinen Prinzen“ lauten. – Es gibt viele Stellen in dem kleinen Büchlein, die Wahrheiten beinhalten, solche Wahrheiten, die von Herzen kommen und zum Herzen gehen. Dieses 21. Kapitel aber ist in meinen Augen die Schlüsselstelle an sich. Hier der Text von Antoine de Saint-Exupéry in Ausschnitten, und danach meine Anmerkungen dazu:

… In diesem Augenblick erschien der Fuchs.
„Guten Tag“, sagte der Fuchs.
„Guten Tag“, antwortete höflich der kleine Prinz, der sich umdrehte, aber nichts sah.
„Ich bin da“, sagte die Stimme, „unter dem Apfelbaum…“
„Wer bist du?“ sagte der kleine Prinz. „Du bist sehr hübsch…“
„Ich bin ein Fuchs“, sagte der Fuchs.
„Komm und spiel mit mir“, schlug ihm der kleine Prinz vor. „Ich bin so traurig…“
„Ich kann nicht mit dir spielen“, sagte der Fuchs. „Ich bin noch nicht gezähmt!“
„Ah, Verzeihung!“ sagte der kleine Prinz.
Aber nach einiger Überlegung fügte er hinzu: „Was bedeutet das: ,zähmen‘?“
„Du bist nicht von hier“, sagte der Fuchs. „Was suchst du?“
„Ich suche die Menschen“, sagte der kleine Prinz. „Was bedeutet ,zähmen‘?“
„Die Menschen“, sagte der Fuchs, „die haben Gewehre und schießen. Das ist sehr lästig. Sie ziehen auch Hühner auf. Das ist ihr einziges Interesse. Du suchst Hühner?“
„Nein“, sagte der kleine Prinz, „ich suche Freunde. Was heißt ,zähmen‘?“
„Zähmen, das ist eine in Vergessenheit geratene Sache“, sagte der Fuchs. „Es bedeutet: sich vertraut machen.“
„Vertraut machen?“
„Gewiss“, sagte der Fuchs. „Du bist für mich noch nichts als ein kleiner Knabe, der hunderttausend kleinen Knaben völlig gleicht. Ich brauche dich nicht, und du brauchst mich ebensowenig. Ich bin für dich nur ein Fuchs, der hunderttausend Füchsen gleicht. Aber wenn du mich zähmst, werden wir einander brauchen. Du wirst für mich einzig sein in der Welt. Ich werde für dich einzig sein in der Welt …“
„Ich beginne zu verstehen“, sagte der kleine Prinz. „Es gibt eine Blume … ich glaube, sie hat mich gezähmt …“

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… Der Fuchs verstummte und schaute den Prinzen lange an: „Bitte … zähme mich!“ sagte er.
„Ich möchte wohl“, antwortete der kleine Prinz, „aber ich habe nicht viel Zeit. Ich muß Freunde finden und viele Dinge kennenlernen.“
„Man kennt nur die Dinge, die man zähmt“, sagte der Fuchs. „Die Menschen haben keine Zeit mehr, irgendetwas kennenzulernen. Sie kaufen sich alles fertig in den Geschäften. Aber da es keine Kaufläden für Freunde gibt, haben die Leute keine Freunde mehr. Wenn du einen Freund willst, so zähme mich!“
„Was muß ich da tun?“ sagte der kleine Prinz.
„Du mußt sehr geduldig sein“, antwortete der Fuchs.
„Du setzt dich zuerst ein wenig abseits von mir ins Gras. Ich werde dich so verstohlen, so aus dem Augenwinkel anschauen, und du wirst nichts sagen. Die Sprache ist die Quelle der Mißverständnisse. Aber jeden Tag wirst du dich ein bißchen näher setzen können …“

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… Am nächsten Morgen kam der kleine Prinz zurück.
„Es wäre besser gewesen, du wärst zur selben Stunde wiedergekommen“, sagte der Fuchs. „Wenn du zum Beispiel um vier Uhr nachmittags kommst, kann ich um drei Uhr anfangen, glücklich zu sein. Je mehr die Zeit vergeht, umso glücklicher werde ich mich fühlen. Um vier Uhr werde ich mich schon aufregen und beunruhigen; ich werde erfahren, wie teuer das Glück ist. Wenn du aber irgendwann kommst, kann ich nie wissen, wann mein Herz da sein soll … Es muß feste Bräuche geben.“
„Was heißt ,fester Brauch?'“
„Auch etwas in Vergessenheit Geratenes“, sagte der Fuchs. „Es ist das, was einen Tag vom andern unterscheidet, eine Stunde von den andern Stunden. Es gibt zum Beispiel einen Brauch bei meinen Jägern. Sie tanzen am Donnerstag mit dem Mädchen des Dorfes. Daher ist der Donnerstag der wunderbare Tag. Ich gehe bis zum Weinberg spazieren. Wenn die Jäger irgendwann einmal zum Tanze gingen, wären die Tage alle gleich und ich hätte niemals Ferien.“

… „Die Menschen haben diese Wahrheit vergessen“, sagte der Fuchs. „Aber du darfst sie nicht vergessen. Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast. Du bist für deine Rose verantwortlich …“
„Ich bin für meine Rose verantwortlich …“, wiederholte der kleine Prinz, um es sich zu merken.

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Verantwortung 

Soweit an dieser Stelle der „Kleine Prinz“. Da ist eigentlich jedes weitere Wort überflüssig. Mehr noch:  noch mehr Worte zerstören den Zauber und die Zartheit der Szene …

Doch wenn wir den Zauber haben wirken lassen, und wir langsam wieder in unsere Welt zurückkehren – bleiben darin die Wörter „Verantwortlichkeit“ oder „Verantwortung“ hängen.

„Je suis responsable de ma rose…“, répéta le petit prince, afin de se souvenir.

So heißt es im Original. Sind das französische responsable, das englische responsible gleichbedeutend dem deutschen Wort „verantworten“? Bedeuten sie nicht etwas Unterschiedliches?

Warum und wozu ich mich dergleichen frage? – Ich sage es Ihnen: Ich bin ein verantwortungsbewusster Mensch. Für das, was ich im Laufe meines Lebens getan habe, übernehme ich die Verantwortung, und wenn mir die Leitung einer Gruppe übertragen wird, übernehme ich ebenfalls die damit verbundene Verantwortung. Ich muss – im Falle, dass es nötig wird – vor einem Anderen,  im Regelfall einem Vorgesetzten (es kann aber auch ein Richter sein) meine Entscheidungen rechtfertigen. Ich muss dann seine Fragen beantworten und für meine Entscheidungen einstehen.

Als Lehrerin übernehme ich ebenfalls Verantwortung – für meine Schüler und ihren von mir initiierten Lernfortschritt. Ja, in diesem Moment könnte man sagen: ich zähme sie, ich mache sie mir vertraut – und sie trauen mir.  Deshalb bin ich für sie – was unsere Verbindung im Unterricht angeht – verantwortlich. Auch die Schüler sind in der Verantwortung: vor sich selber sind sie für ihr Lernen, und ja, als Menschen für ihr Leben verantwortlich.

Junge Menschen lernen nach und nach in ihrem Heranwachsen, Verantwortung zu übernehmen. Ob „Verantwortungsbewusstsein“ eine angeborene oder eine erworbene Fähigkeit ist? Verantwortung und das Bewusstsein dafür hat mit Moral zu tun und mit den Regeln, die die Menschen für ihr Miteinander finden. Die der Verantwortung zugrunde liegenden gesellschaftlichen Normen können einen rechtlichen, religiösen, weltanschaulichen oder moralischen Ursprung haben. Großes Verantwortungsbewusstsein mit Einhaltung der Regeln, vor deren Hüter man sich ver-antworten muss, ist von Philosophen wie Aristoteles, Kant, Kierkegaard, Levinas, Nietzsche u.a.m. im Zusammenhang mit Freiheit, freiem Willen und Gehorsam und Glauben (u.a. Dietrich Bonhoeffer) gesehen worden. Soweit gehe ich hier nicht.

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Wenn wir als Menschen etwas wie eine Anlage zum Verantwortungsbewusstsein haben, würde ich sie allerdings noch anders benennen. Wir alle haben eine mehr oder weniger ausgeprägte Fähigkeit, die Verhältnismäßigkeit von etwas zu beurteilen. (Man könnte da auch von einem Instinkt sprechen…) Verhältnismäßigkeit hat mit Maß zu tun. Auf Ereignisse, auf Angriffe oder auf Angebote reagieren wir im besten Falle in aller Verhältnismäßigkeit mit dem adäquaten Mittel. Je ferner wir dieser Gabe sind, desto mehr klaffen Reiz und Reaktion auseinander.

Das „rechte“ Maß in einer Gemeinschaft wird wiederum von außerindividuellen Instanzen festgelegt. Es gibt Gesellschaften, in denen Maße eng gefasst sind, und der Einhaltung des engen Maßes außerdem noch große Beachtung beigemessen wird. Es gibt Gemeinschaften (und Gemeinschaften sind Familien, Freundeskreise, religiöse Gemeinschaften, Sportvereine…), in denen im Gegenteil das Maßhalten geradezu das Feindbild ist: hier wird die Maßlosigkeit zur Norm, an der man sich orientiert.

Die Art des Verantwortungsbewusstseins, das ein Mensch entwickelt, wird mithin beeinflusst und geprägt durch jene Normen und Regeln, die dort gelten, wo dieser Mensch heranwächst. Verantwortung ist eine „ernste Sache“, das Bewusstsein und die Übernahme von Verantwortung eine schwere, beschwerende Aufgabe (eine Draufgabe). Von Menschen, die sich nicht damit haben konfrontieren müssen, wird sie als belastend empfunden, sobald sie an sie herangetragen wird. Menschen, die ein hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein haben, gehen nicht leichtfertig mit Menschen, den Dingen oder ihren Aufgaben um. Aus gutem Grund ist dieses Maß an Verantwortungsbewusstsein und Verantwortungsbereitschaft eine Schlüsselqualifikation für eine Führungsposition.

In einem Unterricht bin auch ich als Lehrerin eine „Führungskraft“ – zumindest verstehe ich das so, weiß aber, dass es Lehrer gibt, die es anders sehen. Wenn ich möchte, dass meine Schüler ihren Stoff lernen (ich gehe davon aus, dass sie das wollen), muss ich ihnen ‚feste Bräuche‘ bringen (Anfangszeiten, Pünktlich- und Vorhersagbarkeit), ich muss geduldig sein und sie gut beobachten, sie studieren, und abwarten, was sie aus dem machen, was ich ihnen anbiete. Ich habe über viele Jahre hinweg etliche Deutschschülergenerationen unterrichtet; für alle – soweit es den Unterricht während seiner Dauer anging – bin ich verantwortlich geworden. – Was ihre Sprache anging, sogar ganz bestimmt: Das Deutsch, das sie bei mir gelernt haben, hat sie geprägt und geformt.

Indem ich jemanden derart zähme, und indem der kleine Prinz den Fuchs, und die Rose den Kleinen Prinzen, zähmen konnte, hält die Liebe Einzug in unser Miteinander. Liebe ist hier nicht unwesentlich. Über die bloße Verantwortung oder Verantwortlichkeit hinaus – diesem aus der Norm und den Regeln geborenen Konstrukt – entsteht noch ein anderes Verhältnis. Dieses Verhältnis entsteht immer, wenn einer dem anderen etwas reicht. Ohne dieses Eine gelingt die Zähmung nicht. Was uns an Exupérys Fuchs-Prinz-Dialog anrührt, ist die unausgesprochen anwesende Liebe.

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Das Verb répondre (to respond) bzw. das Adjektiv responsable (responsable) enthalten wie das Deutsche „verantworten“ den Aspekt des „Antwortens“ (Une réponse est un élément d’information positif ou négatif fourni après une question. Le terme provient étymologiquement de responsa et répons. La réponse peut parfois être une solution à une énigme ou une question posée…. wikipedia), aber anders als das Deutsche viel offensichtlicher den Anteil des „zurück“. Das Lateinische „pondus“ bedeutet hinwiederum Gewicht, Last, Eindruck und Wucht, „reponere“ heißt niederlegen, zurücklegen, zurückstellen

Die gelungene „Zähmung“, wenn es denn eine ist, in meinen Kursen, zeigte sich in Dankbarkeit seitens der Schüler. Ihr mir entgegengebrachtes Vertrauen ist in Form von Geschenken oder in Gestalt von Anwendung des Gelernten (was mir viel wichtiger als jedes Geschenk ist) die Ernte des Prozesses der Zähmung. Mit diesem „Zurücklegen“ dessen, was ich gegeben habe, endet meine Verantwortlichkeit – zumindest als Lehrerin. Für die Anwendung des Gelernten sind meine Schüler nun selbst verantwortlich. Gleichsam könnte ich sagen: Ich habe eine Last an sie zurückgegeben.

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Zuständigkeit

Vielleicht halten Sie es für konstruiert, dass ich zwischen Verantwortlichkeit und Zuständigkeit unterscheide. – Werden denn nicht beide Wörter synonym verwendet?  –  So und so oft habe ich Menschen sagen hören: „Aber ich bin doch verantwortlich für ihn oder sie oder diese Sache!“ Wirklich? Und ist da etwas wie „Zähmung“ im Spiel? Oder eine höhere Stelle, der Sie Rechenschaft ablegen müssen?  Geben Sie etwas zurück, was man Ihnen entgegengebracht hat? – Ich kann gezwungen oder geneigt sein, Verantwortung für etwas und jemanden zu übernehmen, für den ich zuständig bin. Kann ich aber auch Verantwortung für jemanden übernehmen, für den ich überhaupt nicht zuständig bin? Ist nicht vielleicht das, was der „Kleine Prinz“ mit der Verantwortung meinte, nicht vielleicht eine Frage der Zuständigkeit?

Wenn Sie Zuständigkeit in Synonymwörterbüchern nachschlagen, stoßen Sie auf Einträge wie diesen: Die Zuständigkeit oder Kompetenz legt im öffentlichen Recht fest, welche Behörde bzw. welches Gericht im Einzelfall rechtlich zu hoheitlichem Handeln ermächtigt und verpflichtet ist. Ich möchte das schöne deutsche Wort aus dieser ehernen Rüstung lösen und betrachte die Wörter einmal NUR aus der Sicht der Sprache. Woher kommt das Wort?

Sehen wir es uns an: Stand kommt von stehen – ein Zustand ist also statisch: ein Mensch ist in einem schlechten Zustand, wenn er krank, lädiert, verarmt usw. ist. Ein Auto, das man verkaufen möchte, preist man ob seines guten Zustandes an. Allgemein geht es somit um eine momentane Beschaffenheit oder Qualität. Der Ausdruck er bringt nichts zustande hat ebenfalls mit dem Stand zu tun: zu einem guten oder schlechten Stand bringen (und wenn es kaputt war, dann setze ich es eben wieder instand. Das Wortgetüm „Instandhaltung“ bedeutet, etwas am Laufen/Funktionieren zu halten). Ich krieg‘ Zustände – sogar im Plural – bedeutet, dass ich mich aufrege und einen oder mehrere hysterische Anfälle bekomme.

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Das Verb „zu etwas stehen“ ist nicht zu verwechseln mit „jemandem etwas zugestehen“ oder dem Verb „jemandem zustehen“. Der Zustand, über den ich hier schreibe, geht aus diesem letzten Verb hervor, während sich das Wort Zuständigkeit – zumindest nach meinem Dafürhalten –  aus dem erstgenannten ableitet. Warum? Schauen wir noch einmal in den Text:

Du bist für mich noch nichts als ein kleiner Knabe, der hunderttausend kleinen Knaben völlig gleicht. Ich brauche dich nicht, und du brauchst mich ebensowenig. Ich bin für dich nur ein Fuchs, der hunderttausend Füchsen gleicht. Aber wenn du mich zähmst, werden wir einander brauchen. Du wirst für mich einzig sein in der Welt. Ich werde für dich einzig sein in der Welt …

Ist nicht der letzte Satz eine passende Umschreibung? Bei der „Verantwortlichkeit“ steht es im Hintergrund, aber hier ist es das Wichtigste: Man stellt sich zueinander, indem man sich „einzig“ wird. Man kennt nur die Dinge (und eben Menschen) wirklich, die man sich „besonders“ und „einzig“ gemacht hat. Besonders macht man sie sich, indem man sie als von allen anderen verschieden sehen lernt. Sie sind damit nicht mehr „irgendwer“,  sondern sie bekommen ein Gesicht; damit stehe auch ich in besonderer Weise zu ihnen, ich bin ihnen zu-ständig – ich werde/bin für diese Menschen zuständig.  Der besondere Moment und die Unterscheidung von dem vielen Anderen, die es zu treffen gilt – die Besonderheit des Verhältnisses – hat etwas geradezu Exklusives. Ich jedenfalls deute es als eine Ausschließlichkeit: nicht für alles und jeden bin ich zuständig. Zuständig bin ich für Dinge und Menschen, die in einer besonderen – vertrauten – Weise mit mir zu tun haben. Die Person oder das Ding, für das ich zuständig bin oder umgekehrt, ist „einzig in der Welt“.

Für meine Kinder werde ich als Mutter immer zuständig sein. Ich wiederum werde sie in ihre eigene Verantwortung sich selbst gegenüber ziehen lassen, und ich werde auch nicht verantwortlich für ihre Taten und Worte sein. Wenn ich einen Schüler unter den vielen (für deren Lernerfolg ich verantwortlich bin) mir sehr bekannt mache, ihn mir vertraut mache, dann werde ich für ihn zuständig, und das bedeutet, dass seine Nöte und Freuden auch meine Nöte und Freuden werden. Über alle Zeit und alle Entfernung hinweg. Freundschaft hat mit Zuständigkeit zu tun, aber weder mit übergriffiger Einmischung noch mit Übernahme seiner Probleme.

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Meine Sicht auf das Wort und die Sache dahinter, geht über den bloßen Zuständigkeitsbereich der trockenen Definitionen und angegebenen Synonyme hinaus. In „meiner“ Zuständigkeit gibt es weniger zu verantworten, obwohl die Verantwortung nicht völlig verschwindet und auch nicht ausgeschlossen ist: Jeder bleibt für sich verantwortlich.

Du bist für mich noch nichts als ein kleiner Knabe, der hunderttausend kleinen Knaben völlig gleicht. Ich brauche dich nicht, und du brauchst mich ebensowenig. Ich bin für dich nur ein Fuchs, der hunderttausend Füchsen gleicht. Aber wenn du mich zähmst, werden wir einander brauchen… 

Der Fuchs spricht vom „brauchen“ – und in diesem einen Punkt, denke ich, irrt er.

Bien sûr, dit le renard. Tu n’es encore pour moi qu’un petit garçon tout semblable à cent mille petits garçons. Et je n’ai pas besoin de toi. Et tu n’as pas besoin de moi non plus. Je ne suis pour toi qu’un renard semblable à cent mille renards. Mais, si tu m’apprivoises, nous aurons besoin l’un de l’autre…

Es ist kein Zweifel: er hat es auch im Original gesagt. Dabei hätte ich so gerne dort stehen sehen: Mais, si tu m‘ apprivoises, nous prenons besoin l’un pour l’autre – wir sorgen uns/wir kümmern uns umeinander. soin ist die Pflege, die Sorgfalt, die Versorgung. Brauchen hat für mich einen ganz anderen Klang – es trägt Abhängigkeit in sich, vor allen Dingen im Kontext mit Menschen. Was das Benötigen von Dingen angeht, ist das etwas Anderes. Die Dinge und Gegenstände brauchen uns nicht, wir aber wohl sie.

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Sorge – Pflege – Liebe

Das Kapitel 21 beginnt im Moment der – im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinne – größten Entferntheit des Kleinen Prinzen von seiner Blume. Da erscheint der Fuchs, und der Kleine Prinz will mit ihm spielen, um seine Trauer vergessen zu können. Daraufhin beginnt unser Dialog. Während der Fuchs vom Zähmen spricht, erkennt nun der Kleine Prinz, dass die Einzigartigkeit seiner Rose in der Bedeutung liegt, die sie für ihn hat, weil er mit ihr vertraut ist – und nicht in einer Einmaligkeit ihrer sichtbaren Erscheinung. Ihre Einzigartigkeit liegt in ihm – und nur dort kann sie auch liegen.

Es haben auch der Fuchs und der Prinz Vertrautheit miteinander erlangt; der Prinz wird dennoch nicht für den Fuchs verantwortlich; und der Fuchs seinerseits schickt ihn, bevor er für den Prinzen wirklich verantwortlich werden könnte, zu den Rosen.

So machte denn der kleine Prinz den Fuchs mit sich vertraut. Und als die Stunde des Abschieds nahe war:
„Ach!“ sagte der Fuchs. „Ich werde weinen.“
„Das ist deine Schuld“, sagte der kleine Prinz. „Ich wünschte dir nichts Übles, aber du hast gewollt, dass ich dich zähme …“
„Gewiss“, sagte der Fuchs.
„Aber nun wirst du weinen!“ sagte der kleine Prinz.
„Bestimmt“, sagte der Fuchs.
„So hast du nichts gewonnen!“
„Ich habe“, sagte der Fuchs, „die Farbe des Weizens gewonnen.“
Dann fügte er hinzu:
„Geh die Rosen wieder anschauen. Du wirst begreifen, dass die deine einzig ist in der Welt.
Du wirst wiederkommen und mir Adieu sagen, und ich werde dir ein Geheimnis schenken.“

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Als junger Mensch war ich sicher, dass zur Liebe das „Brauchen“ gehöre. Das eine gäbe es nicht ohne das andere. Voraussetzung dafür, dass ich meine Liebe zeigen und praktizieren konnte, war zu jener Zeit zwangsläufig, dass die Person, auf die sie zielte, anwesend war.  Das war das eine Problem. Dann: Habe ich einen Menschen gezähmt, wenn er mich anschließend ständig braucht? Lasse ich mich zähmen, und brauche anschließend meinen Dompteur? Das Gefühl, gebraucht zu werden, ist zu bestimmten Phasen des Lebens lebenserhaltend, in manchen Menschen chronifiziert es sich. Das Gefühl ist in Wirklichkeit ein Bedürfnis und stiftet einen Sinn, wenn ich den Sinn nicht in mir selbst finde.

Auch eine Lehrerin kann ihre Schüler lieben, und sie brauchen. Es gibt nicht wenige Lehrer, die ihren Beruf dazu benutzen, aus ihren Schülern den Sinn ihres Lebens zu beziehen. Diese Art der selbstlosen Aufopferungsliebe für die Kinder und für den Beruf füllt eine Lücke. Auf solche Weise liebende Lehrer werden viel daran setzen, sich unentbehrlich zu machen. Eine Entfernung – wie bereits gesagt – aus der Nähe der geliebten Umgebung und von den geliebten Menschen – wird als Leid empfunden. Zur wirklichen Liebe gehört, dass wir das Ziel unserer Liebe frei lassen, auch wenn es uns weh tut, sie ziehen zu lassen.

Im Kleinen Prinzen lässt der Fuchs, der doch zuvor noch den Prinzen gebeten hatte, ihn zu zähmen, ziehen – erst zu den Rosen, dann zu einem nächsten Kapitel, aber letztlich natürlich zu seiner Rose. Das ist eine reife Art der Liebe. Obwohl die Abschiede – auch meine Abschiede von meinen Schülern, die ich mir bekannt gemacht habe – schmerzhaft sind, sind sie notwendig, denn bei aller Vertrautheit, die man gewinnt, muss doch jeder Einzelne für sich das leben, was das Seine ist. Er muss die Erfahrungen machen, die ihn zu sich selbst bringen. Das ist seine Verantwortung sich selbst gegenüber.

Wollte ich meine eigenen Geschichten mit dem „Kleinen Prinzen“ vergleichen, oder sie einordnen sollen, dann würde ich auf „Moni und Menelaos“ verweisen. Es geht darin um ein Kälbchen namens Moni, das einen Schmetterling namens Menelaos kennenlernt. Sie machen sich miteinander vertraut und lernen einander „sehen“ – der Untertitel dieser Erzählung heißt: Von Freundschaft und den Spuren, die sie hinterlässt.

Buch7„Moni erzählt ihm – flüsternd, denn jetzt hat sie gelernt, ihre Stimme zu mäßigen – von ihrer Bekanntschaft mit Menelaos, und davon, dass er sie einfach verlassen hat, weil er Angst vor ihr  hatte.
„Ja,ja. Wir und ihr passen nun mal nicht zusammen“, sagt der Rot-Blaue. „Wir sind Kinder der Luft, und ihr seid Kinder der Erde. Wir leben kurz, und manchmal bringt ihr uns den Tod.“
„Ich habe aber Menelaos nicht getötet!“ ruft Moni aufbrausend. „Ich habe ihn beschützt.“
„Du kannst ihn nicht beschützen. Das, wofür er lebt, muss er allein tun. Und das, wofür du lebst, musst du in deiner Welt tun.

Moni kehrt nachdenklich zu ihrer Familie zurück. Die steht wie jeden Tag im hohen Gras, zupft an den Halmen, mahlt sie mit automatischen Kaubewegungen, den Blick ins Unendliche gerichtet…

… Es ist gut, ein Zuhause zu haben, denkt Moni. Es ist gut, diese Zweibeiner zu haben, die uns versorgen. Tief im Herzen aber trägt sie das Bild von Menelaos, wie er gerade geschlüpft ist und seine Flügel auseinanderfaltete, und sie die Ältere war…“

Moni empfindet am Ende dieser Geschichte eine Zuständigkeit für alle feinen, kleinen, kaum sichtbaren Lebewesen (weil sie sich einem einzigen von ihnen „besonders“ gezeigt hat – und er sich ihr) – auch, wenn diese von ihr sehr verschieden sind. – Und jetzt sind wir beim Geheimnis angelangt, das der Fuchs dem Kleinen Prinzen verrät. Wie es heißt? – Das werde ich doch hier nicht verraten, das lesen Sie am besten selbst noch einmal nach.

Im Flipbook lesen.

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Lesevorschläge

  • Erich Fromm, Die Kunst des Liebens, Heyne 2001 (ist aber älteren Datums!)
  • Viktor Frankl, Der Wille zum Sinn, Verlag Hans Huber; Auflage: 5., erw. Aufl. (18. Mai 2005)
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