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VOM ENTSCHEIDEN UND VOM WÄHLEN

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In einer komplexen Welt gibt es unzählige Handlungsmöglichkeiten, die wir wählen könnten. Gibt es auch Muster, nach denen wir Entscheidungen treffen? Folgen wir als Homo oeconomicus wirtschaftlichen oder vernünftigen Prinzipien oder lassen wir uns von unseren Gefühlen leiten? Aber was sind diese „Gefühle“?

Einige Menschen treffen Entscheidungen aus dem Bauch heraus. Das ist oft nicht die schlechteste Variante, denn sie entscheiden dabei auf der Basis einer Mischung aus Verstand, Erfahrung und Empfinden. Allerdings sind die Entscheidungen aus dem Bauch heraus nicht immer die besten: unzureichende Informationen oder Panikmache von seiten anderer lassen uns in Situationen geraten, in denen wir – von diffusen Ängsten getrieben – völlig orientierungslos entscheiden. Oft sind es eben gerade mangelnde Kenntnisse, warum Entscheidungen dann fatal ausfallen. Ich habe mir heute Gedanken dazu gemacht. Sie sind nicht ganz druckreif – aber als Anstoß geeignet…

Zum Warmlaufen: Unsere Sprache suggeriert uns eine bestimmte Haltung bzw. eine Einstellung: Wir fällen oder treffen eine Entscheidung, analog dazu „fallen Entscheidungen“… Fällen wir sie wirklich so, wie wir einen Baum fällen? – Da schwingt meines Verständnisses nach die Assoziation eines kurzen, schnellen Moments mit.  

Sprachlich müssten wir auch noch unterscheiden: entscheiden wir uns für etwas, oder entscheiden wir uns zu etwas? Ersteres beinhaltet die Wahlmöglichkeiten – es gibt eine Vorgabe an Möglichkeiten in der Gegenwart und das Ergebnis (der Wahl) liegt nicht weit von unserer Gegenwart entfernt, nämlich recht nah. Letzteres ist eine Wahl für die Zukunft – das Ergebnis (der Entscheidung als Prozess zu dem Gewählten hin, auf das Gewählte zu) ist noch offen, fraglich, ob wir überhaupt zum Handeln kommen. Wählen erhält in dieser Sichtweise den Hauch der Unmittelbarkeit, während die Entscheidung noch viel länger verantwortet werden wird und verpflichtet.

Wenn ich die Auswahl zwischen mehreren Angeboten habe, kann ich wählen (nehme ich den roten Pullover oder den schwarzen?). Wenn mein Berufsumfeld mehrere Möglichkeiten anbietet, kann ich ebenfalls wählen (nehme ich das Angebot der Firma X oder das der Firma Y an?).

Die Möglichkeit der (Aus-)Wahl heißt noch nicht zwangsläufig, dass ich auch zu entscheiden vermag. Um wählen zu können, muss ich nämlich über eine besondere Fähigkeit verfügen. Eine Voraussetzung für das Wählenkönnen ist die Fähigkeit, entscheiden zu können. Seltsame Sache. Verflixt, könnte man sagen.

Entscheidungsfähigkeit ist eine Gabe, die Menschen in unterschiedlichem Maße gegeben ist. Ich kenne Leute, die sehr große Schwierigkeiten mit dem Sich-Entscheiden haben. Sich für etwas zu entscheiden, heißt für sie in erster Linie: sie müssen sich gegen all die anderen Möglichkeiten, die sie nun nicht mehr haben werden, aussprechen – und das weckt ihre Versäumnisangst. Um diese Angst nicht aufkommen zu lassen, vermeiden sie Situationen, in denen eine eindeutige Entscheidung gefragt wird. Andererseits geraten sie genau dadurch in komplizierte Verwicklungen. Der entnervte Aufruf von Freunden „Nun entscheide dich doch mal!“ macht es ihnen nicht leichter. Was ist am Ende das Ergebnis? –  Stillstand.

Können Kinder eigentlich entscheiden? Ab wann gelingt es ihnen und ab wann wird diese Fähigkeit für sie wichtig? Wenn man Kinder vor die Wahl stellt, fällt auf, dass die ganz Kleinen mit einem großen Angebot völlig überfordert sind. Lässt man sie aber erst zwischen zwei Angeboten wählen, später zwischen dreien – dann zwischen immer mehr – mit der festen Vorgabe: wähle eines –  werden sie ein Gespür für sich selbst und das zu Wählende bzw. die Verbindung zwischen der Wahl, dem Objekt der Wahl und ihrem Befinden herstellen können.  

Irgendwann wird jeder an den Punkt gelangen, an dem ihm keine der angebotenen Möglichkeiten gefällt. Jetzt zeigt sich: werden wir uns dafür oder dazu entscheiden, nichts zu wählen? Weil nicht in der Auswahl ist, was für uns attraktiv wäre? – Ich denke, dass an diesem Punkt ein erstes echtes Entscheiden erwacht: ich kann auch alles ablehnen (und versuchen, das zu bekommen, was mir vorschwebt).

Was das Entscheiden weiter angeht, habe ich immer wieder diese Erfahrung gemacht: ich weiß, es wird (in meinem Leben) notwendig, etwas zu verändern… Mein Körper setzt mir Grenzen und fordert, dass ich ganz bestimmte Sachen ab einem gewissen Alter oder in einer neuen Situation anders handhabe. Habe ich eine Wahl? Hier habe ich keine Wahl, wenn ich davon ausgehe, dass ich ein lebenswertes und zufriedenes Leben leben möchte. Völlig alternativlos ist meine Lage jedoch immer noch nicht: ich könnte auch bewusst die Verweigerung wählen.

Ich habe jedoch meine Entscheidung zugunsten des „Weiterlebens“ getroffen und wähle nun die entsprechenden Schritte. Sie garantieren keine Freiheit von Schmerzen, und die Karte, für die ich entschieden habe, bedeutet  – einen Prozess.  Ich fange mit den ersten Handgriffen an, wachse in die Veränderung hinein (dann habe ich sie bereits akzeptiert), ich lasse ab von dem, was mir nicht mehr guttut – ich finde das eigene Zeitmaß, das mir vorgibt, wie schnell ich etwas ändere und in welchen Schritten. Ich kann mich irren, auch die Fehler sind nötig, dann habe ich etwas gewählt, das ein Fehlgriff war.

Eins ist wohl klar: Wenn eine Krise ansteht, können wir uns aus ihr, die die Änderung auslöst und deren Notwendigkeit wir einsehen, nicht herausentscheiden. Wir müssen hineinwachsen – in das für uns Geeignetere – und herauswachsen aus dem Alten.

Um entscheiden zu können, brauchen wir Kenntnis über uns selbst. Es sind diese und die Erfahrungen, die wir bereits gemacht haben, die uns eine kluge oder unkluge Entscheidung treffen lassen.

Ich komme zum Bauchgefühl. Aus dem Bauch heißt meistens: wir denken mit dem zweiten Gehirn, dem Sonnengeflecht – im Zentrum das vegetative autonome Nervensystem – jenes von unserem Willen unabhängige. Das Wir ist jetzt ein anderes. Das Herz klopft nicht auf unseren Willen hin – die Atmung geht automatisch, und auch die Verdauung ist unserem Willen entzogen.

Wir bewegen uns hier auf der neurologischen Ebene. António R. Damásio meint, dass der Mensch jedem Begriff und jeder Erinnerung eine Art somatischen Marker zuordnet, mittels dessen wir heterogene Informationen beschleunigen und zu einer Entscheidung verarbeiten können.

Somatisch-emotionale Marker bewirken im Alltag eine automatische Bevorzugung von vorteilhaften (meist egoistischen) Argumenten und helfen bei der Vermeidung von Gefahren. Es handelt sich um eine entwicklungsgeschichtlich sehr alte Funktion, die jedem Tier mit hinreichender Gehirnkapazität entscheidende Überlebensvorteile bietet (Gedächtnis und Amygdala vorausgesetzt). Wir nutzen diese Bewertungsfunktion bevorzugt für unbewusste oder spontane Reaktionen  – eben „aus dem Bauch heraus“. In den emotionalen Markern sind also die persönlichen Erfahrungen abgebildet. In diesem Zusammenhang ist auch die Intuition zu erwähnen, jenes aus(Lebens-) Erfahrung erwachsende Empfinden, das mehr einem „Geistesblitz“ anheimelt denn einer in uns selbst gefundenen Emotion (jetzt habe ich absichtlich nicht Gefühl geschrieben!).

Apropos Selbstkenntnis/-erkenntnis: Wenn wir wissen, wie wir – als jeweils speziell „besiedelter Planet“ – in die Welt gehen, wählen wir das für uns Richtige. Und das tun wir spontan. Ob Spontaneität dasselbe ist wie Impulsivität lasse ich an dieser Stelle dahingestellt (hier vermischen sich die Nomenklaturen und das bedarf einer eigenen Betrachtung). Indem ich auf meinen Bauch höre, kann das Richtige sehr wohl unvernünftig sein – und darüber hinaus für andere irrational aussehen. Andersherum kann eine im Sinne der Welt getroffene – und ich rede hier nicht von Moral oder Ethik – Entscheidung für mich zum Nachteil gereichen. Ich habe gegen mich selbst entschieden. Das wiederum passiert nicht wenigen von uns. Fragt sich: kann eine Bauchentscheidung überhaupt falsch sein? Und wenn die Entscheidung falsch war, war sie dann überhaupt eine Bauchentscheidung?

Ob weniger weitreichend oder sogar weiter reichend als die uns seitens unseres Bauchs (emotional/spontan – d.h. impulsgesteuert) abgenommenen Entscheidungen ist die Entscheidung aufgrund rationaler Überlegungen. Ich hatte mich entschieden, einen Japanischkurs zu belegen. Nun schaute ich mich nach Angeboten um und wählte aus der Vielzahl der Angebote den Kurs aus, der mir der geeignetste für mich zu sein schien. Ich schritt also zur Anmeldung und dann zum ersten Unterrichtstag. Dort stellte ich bald fest, dass meine Wahl der Schule und des Kurses sehr gut war oder ist. Es gefiel mir im Kurs, der Lehrer war super. Nach mehreren Stunden stellte ich allerdings fest, dass etwas grundsätzlich Anderes falsch war. Japanisch ist keine Sprache für mich. Es geht nicht. Ich hatte mithin eine Entscheidung getroffen – aber es fehlten mir Erkenntnisse über mich selbst. Diese erkannte ich erst, indem ich es probierte.

Rationale Entscheidungen können durch (falsche) Vorstellungen über sich selbst und das Objekt der Wahl beeinträchtigt werden. Eine rational begründete Entscheidung richtet sich nach bereits vorgängig abgesteckten Zielen oder vorhandenen Wertmaßstäben. Hier spielt die Entscheidungskompetenz die größere Rolle. Von der Fähigkeit hängt es ab, ob eine z.B. Pro- oder Contra-Entscheidung zum gewünschten Ziel führt.

Meinen Deutschschülern im Unterricht erklärte ich es neulich mit diesen Worten: Der Unterschied zwischen ‚wählen‘ und ‚entscheiden‘ ist, wenn du dich entscheidest zu heiraten, dich nach einer Reihe verschiedener Frauen umsiehst (das ist die Auswahl) und du schließlich eine Frau wählst.

Ist das nicht eine gute Erklärung? – Ich fürchte, sie ist eigentlich falsch herum. Das ist aber nun wirklich eine noch andere Geschichte.

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